Dienstag, 14. Dezember 2010

Das Kalte Herz - Teil 5

von Wilhelm Hauff (1802-1827)

Als Peter am Montagmorgen in seine Glashütte ging, waren nicht nur seine Arbeiter da, sondern auch andere Leute, die man nicht gern sieht, nämlich der Amtmann und drei Gerichtsdiener. Der Amtmann wünschte Peter einen guten Morgen, fragte, wie er geschlafen habe, und zog dann ein langes Register heraus, darauf waren Peters Gläubiger verzeichnet. "Könnt Ihr zahlen oder nicht?" fragte der Amtmann mit strengem Blick. "Und macht es nur kurz, denn ich habe nicht viel Zeit zu versäumen, und in den Turm sind es drei gute Stunden." Da verzagte Peter, gestand, dass er nichts mehr hatte, und überließ es dem Amtmann, Haus und Hof, Hütte und Stall, Wagen und Pferde zu schätzen. Und als die Gerichtsdiener und der Amtmann umhergingen und prüften und schätzten, dachte er, bis zum Tannenbühl ist's nicht weit - hat mir der Kleine nicht geholfen, so will ich es einmal mit dem Großen versuchen! Er lief dem Tannenbühl zu, so schnell, als ob die Gerichtsdiener ihm auf den Fersen wären. Es war ihm, als er an dem Platz vorbeirannte, wo er das Glasmännlein zuerst gesprochen hatte, als halte ihn eine unsichtbare Hand auf. Aber er riss sich los und lief weiter bis an die Grenze, die er sich früher wohl gemerkt hatte, und kaum hatte er, beinahe atemlos, "Holländer-Michel! Herr Holländer-Michel!" gerufen, als auch schon der riesengroße Flößer vor ihm stand.
"Kommst du?" sprach dieser lachend. "Haben sie dir die Haut abziehen und deinen Gläubigern verkaufen wollen? Nun, sei ruhig! Dein ganzer Jammer kommt - wie gesagt - von dem kleinen Glasmännlein, von dem Frömmler her. Doch komm", fuhr er fort und wandte sich gegen den Wald, "folge mir in mein Haus! Dort wollen wir sehen, ob wir handelseinig werden."
"Handelseinig?" dachte Peter. "Was kann er denn von mir verlangen, was kann ich an ihn verhandeln? Soll ich ihm etwa dienen - oder was will er?" Sie gingen zuerst über einen steilen Waldsteig hinauf und standen dann mit einemmal an einer dunklen, abschüssigen Schlucht. Holländer-Michel sprang den Felsen hinab, wie wenn es eine sanfte Marmortreppe wäre. Aber bald wäre Peter in Ohnmacht gesunken, denn als jener unten angekommen war, machte er sich so groß wie ein Kirchturm und reichte ihm einen Arm, so lang wie ein Weberbaum, und eine Hand daran, so breit wie der Tisch im Wirtshaus - und rief mit einer Stimme, die heraufschallte wie eine Totenglocke: "Setz dich nur auf meine Hand und halte dich an den Fingern, so wirst du nicht fallen!" Peter tat zitternd, wie jener befohlen, nahm Platz auf der Hand und hielt sich am Daumen des Riesen fest.
Er ging weit und tief hinab, aber dennoch wurde es zu Peters Verwunderung nicht dunkler. Im Gegenteil, die Tageshelle schien sogar zuzunehmen in der Schlucht, aber er konnte sie lange in den Augen nicht vertragen. Der Holländer-Michel hatte sich, je weiter Peter herabkam, wieder kleiner gemacht und stand nun in seiner früheren Gestalt vor einem Haus, so gering oder gut, als es reiche Bauern im Schwarzwald haben. Die Stube, wohin Peter geführt wurde, unterschied sich in nichts von den Stuben anderer Leute als dadurch, dass sie einsam schien.
Die hölzerne Wanduhr, der ungeheure Kachelofen, die breiten Bänke, die Gerätschaften auf den Gesimsen waren hier wie überall. Michel wies ihm einen Platz hinter dem großen Tisch an, ging dann hinaus und kam bald mit einem Krug Wein und Gläsern wieder. Er goss ein, und nun schwatzten sie, und Holländer-Michel erzählte von den Freuden der Welt, von fremden Ländern, schönen Städten und Flüssen, dass Peter - am Ende große Sehnsucht danach bekommend - dies auch offen dem Holländer erzählte.
"Wenn du im ganzen Körper Mut und Kraft, etwas zu unternehmen, hast, da können ein paar Schläge des dummen Herzens dich zittern machen. Und dann die Kränkungen der Ehre, das Unglück- für was soll sich ein vernünftiger Kerl um dergleichen bekümmern? Hast du's im Kopf empfunden, als dich letzthin einer einen Betrüger und schlechten Kerl nannte? Hat es dir im Magen weh getan, als der Amtmann kam, dich aus dem Haus zu werfen? Was, sag an, was hat dir weh getan?"
"Mein Herz", sprach Peter, indem er die Hand auf die pochende Brust presste. Denn es war ihm, als ob sein Herz sich ängstlich hin und her wendete.
"Du hast - nimm es mir nicht übel -, du hast viele hundert Gulden an schlechte Bettler und anderes Gesindel weggeworfen, was hat es dir genützt? Sie haben dir dafür Segen und einen gesunden Leib gewünscht, ja - bist du deswegen gesünder geworden? Um die Hälfte des verschleuderten Geldes hättest du einen Arzt holen können. Segen - ja, ein schöner Segen, wenn man gepfändet und ausgestoßen wird! Und was war es, das dich getrieben hat, in die Tasche zu greifen, sobald ein Bettelmann seinen zerlumpten Hut hinstreckte? Dein Herz, auch wieder dein Herz - und weder deine Augen noch deine Zunge, deine Arme noch deine Beine, sondern dein Herz! Du hast es dir - wie man richtig sagt - zu sehr zu Herzen genommen."
"Aber wie kann man sich denn angewöhnen, dass es nicht mehr so ist? Ich gebe mir jetzt alle Mühe, es zu unterdrücken, aber dennoch pocht mein Herz und tut mir weh!"
"Du freilich", rief jener mit Lachen, "du armer Schelm kannst nichts dagegen tun! Aber gib mir das kaum pochende Ding, und du wirst sehen, wie gut du es dann hast."
"Euch mein Herz?" schrie Peter mit Entsetzen, "da müsste ich ja auf der Stelle sterben! Nimmermehr!"
"Ja, wenn dir einer Eurer Herren Chirurgen das Herz aus dem Leibe operieren würde, da müsstest du wohl sterben. Bei mir ist das ein anderes Ding. Doch komm herein und überzeuge dich selbst!" Er stand bei diesen Worten auf, öffnete eine Kammertür und führte Peter hinein. Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen, als er über die Schwelle trat, aber er achtete nicht darauf, denn der Anblick, der sich ihm bot, war sonderbar und überraschend. Auf mehreren Gesimsen von Holz standen Gläser, mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt, und in jedem dieser Gläser lag ein Herz. Auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf geschrieben, die Peter neugierig las. Da war das Herz des Amtmanns, das Herz des dicken Ezechiel, das Herz des Tanzbodenkönigs, das Herz des Oberförsters. Da waren sechs Herzen von Kornwucherern, acht von Werbeoffizieren, drei von Geldverleihern - kurz, es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgebung von zwanzig Stunden.
"Schau!" sprach Holländer-Michel, "diese alle haben des Lebens Ängste und Sorgen weggeworfen. Keines dieser Herzen schlägt mehr ängstlich und besorgt, und ihre ehemaligen Besitzer befinden sich wohl dabei, dass sie den unruhigen Gast aus dem Hause haben!"
"Aber was tragen sie denn jetzt dafür in der Brust?" fragte Peter, den dies alles, was er gesehen, beinahe schwindeln machte.
"Dies", antwortete jener und reichte ihm aus einem Schubfach ein steinernes Herz.
"So?" erwiderte er und konnte sich eines Schauers, der ihm über die Haut ging, nicht erwehren. "Ein Herz von Marmorstein? Aber horch einmal, Herr Holländer-Michel, das muss doch gar kalt sein in der Brust!"
"Freilich, aber ganz angenehm kühl. Warum soll denn ein Herz warm sein? Im Winter nützt dir die Wärme nichts, da hilft ein guter Kirschgeist mehr als ein warmes Herz, und im Sommer, wenn alles schwül und heiß ist - du glaubst nicht, wie dann solch ein Herz abkühlt. Und - wie gesagt - weder Angst noch Schrecken, weder törichtes Mitleid noch anderer Jammer pocht an solch ein Herz."
"Und das ist alles, was Ihr mir geben könnt?" fragte Peter unmutig. " Ich hoffte auf Geld, und Ihr wollt mir einen Stein geben!"
"Na, ich denke, an hunderttausend Gulden hättest du fürs erste genug! Wenn du es geschickt anwendest, kannst du bald Millionär werden."
"Hunderttausend?" rief der arme Köhler freudig. "Nun, so poche doch nicht so ungestüm in meiner Brust! Wir werden bald fertig sein miteinander. Gut, Michel! Gebt mir den Stein und das Geld, und die Unruh könnt Ihr aus meinem Gehäuse herausnehmen!"
"Ich dachte es doch, dass du ein vernünftiger Bursche bist", antwortete der Holländer freundlich lächelnd, "komm, lass uns noch eins trinken, und dann will ich das Geld auszahlen."
So setzten sie sich wieder in die Stube zum Wein, tranken und tranken wieder, bis Peter in einen tiefen Schlaf verfiel.
Kohlenmunk-Peter erwachte beim fröhlichen Schmettern eines Posthorns, und siehe da - er saß in einem schönen Wagen, fuhr auf einer breiten Straße dahin, und als er sich aus dem Wagen bog, sah er in blauer Ferne hinter sich den Schwarzwald liegen. Anfänglich wollte er gar nicht glauben, dass er es selbst sei, der in diesem Wagen sitze. Denn auch seine Kleider waren nicht mehr dieselben, die er gestern getragen hatte. Aber er erinnerte sich doch an alles so deutlich, dass er endlich sein Nachsinnen aufgab, und rief: "Der Kohlenmunk-Peter bin ich, das ist ausgemacht - und kein anderer!"
Er wunderte sich über sich selbst, dass er gar nicht wehmütig werden konnte, als er jetzt zum erstenmal aus der stillen Heimat, aus den Wäldern, wo er so lange gelebt hatte, auszog. Selbst nicht, als er an seine Mutter dachte, die jetzt wohl hilflos und im Elend saß, konnte er eine Träne aus dem Auge pressen oder auch nur seufzen - denn es war ihm alles so gleichgültig. "Ach, freilich", sagte er dann, "Tränen und Seufzer, Heimweh und Wehmut kommen ja aus dem Herzen, und dank dem Holländer-Michel ist meines so kalt wie Stein."
Er legte seine Hand auf die Brust, und es war ganz ruhig dort, nichts rührte sich. "Wenn er mit den Hunderttausenden so gut Wort hielt wie mit dem Herzen, so soll es mich freuen", sprach er und fing an, seinen Wagen zu untersuchen. Er fand Kleidungsstücke aller Art, wie er sie nur wünschen konnte, aber kein Geld. Endlich stieß er auf eine Tasche und fand viele tausend Taler in Gold und Scheinen auf Handelshäuser in allen großen Städten. "Jetzt hab ich's, wie ich's wollte", dachte er, setzte sich bequem in die Ecke des Wagens und fuhr in die weite Welt.

… Fortsetzung folgt …

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