Donnerstag, 9. Dezember 2010

Das Kalte Herz - Teil 1


Wer durch Schwaben reist, der sollte nie vergessen, auch ein wenig in den Schwarzwald hineinzuschauen. Nicht der Bäume wegen, obgleich man nicht überall solch unermessliche Mengen herrlich aufgeschossener Tannen findet, sondern wegen der Leute, die sich von den anderen Menschen ringsum merkwürdig unterscheiden. Sie sind größer als gewöhnliche Menschen, breitschultrig, von starken Gliedern, und es ist, als ob der stärkende Duft, der morgens durch die Tannen strömt, ihnen von Jugend auf einen freieren Atem, ein klareres Auge und einen festeren, wenn auch raueren Mut als den Bewohnern der Stromtäler und Ebenen gegeben hätte. Und nicht nur durch Haltung und Wuchs, auch durch ihre Sitten und Trachten sondern sie sich von den Leuten, die außerhalb des Waldes wohnen, streng ab. Am schönsten kleiden sich die Bewohner des badischen Schwarzwaldes. Die Männer lassen den Bart wachsen, wie er von der Natur dem Mann ums Kinn gegeben ist. Ihre schwarzen Wämser, ihre ungeheuren, enggefalteten Pluderhosen, ihre roten Strümpfe und die spitzen Hüte, von einem breiten Rand umgeben, verleihen ihnen etwas Fremdartiges, aber Ernstes, Ehrwürdiges. Dort beschäftigen sich die Leute gewöhnlich mit Glasmachen, auch verfertigen sie Uhren und tragen sie in der halben Welt umher.
Auf der anderen Seite des Waldes wohnt ein Teil desselben Stammes, aber ihre Arbeiten haben ihnen andere Sitten und Gewohnheiten gegeben als den Glasmachern. Sie handeln mit ihrem Wald, sie fällen und behauen ihre Tannen, flößen sie durch die Nagold in den Neckar und von dem oberen Neckar den Rhein hinab bis weit hinein nach Holland. Und am Meer kennt man die Schwarzwälder und ihre langen Flöße. Sie halten an jeder Stadt, die am Strom liegt, an und erwarten stolz, ob man ihnen Balken und Bretter abkaufen werde. Ihre stärksten und längsten Balken aber verhandeln sie um schweres Geld an die holländischen Mynheers, welche Schiffe daraus bauen. Diese Menschen nun sind an ein raues Wanderleben gewöhnt, ihre Freude ist, auf ihrem Holz die Ströme hinabzufahren, ihr Leid, am Ufer wieder heraufzuwandern. Darum ist auch ihr Prachtanzug so verschieden von dem der Glasmänner im anderen Teil des Schwarzwaldes. Sie tragen Wämser von dunkler Leinwand, einen handbreiten grünen Hosenträger über der breiten Brust, Beinkleider von schwarzem Leder, aus deren Tasche ein Zollstock von Messing wie ein Ehrenzeichen hervorschaut. Ihr Stolz aber und ihre Freude sind ihre Stiefel, die größten wahrscheinlich, welche auf irgendeinem Teil der Erde Mode sind. Denn sie können zwei Spannen weit über das Knie hinaufgezogen werden, und die Flößer können damit in drei Schuh tiefem Wasser umherwandern, ohne sich die Füße nass zu machen.
Noch vor kurzer Zeit glaubten die Bewohner dieses Waldes an Waldgeister, und erst in neuerer Zeit hat man ihnen diesen törichten Aberglauben nehmen können. Sonderbar ist es aber, dass auch die Waldgeister, die der Sage nach im Schwarzwald hausen, sich in diese verschiedenen Trachten geteilt haben. So hat man versichert, dass das Glasmännlein - ein gutes Geistchen von dreieinhalb Fuß Höhe - sich nie anders zeige als in einem spitzen Hütlein mit großem Rand, mit Wams und Pluderhöschen und roten Strümpfen.
Der Holländer-Michel aber, der auf der anderen Seite des Waldes umhergeht, soll ein riesengroßer, breitschultriger Kerl in der Kleidung der Flößer sein, und mehrere, die ihn gesehen haben, versichern, dass sie die Kälber nicht aus ihrem Beutel bezahlen möchten, deren Felle man zu seinen Stiefeln brauchen würde. „So groß, dass ein gewöhnlicher Mann bis an den Hals drinstehen könnte“, sagten sie und wollten nicht übertrieben haben!
Mit diesen Waldgeistern soll einmal ein junger Schwarzwälder eine sonderbare Geschichte erlebt haben, die ich erzählen will. Es lebte nämlich im Schwarzwald eine Witwe, Frau Barbara Munkin. Ihr Gatte war Kohlenbrenner gewesen, und nach seinem Tode hielt sie ihren sechzehnjährigen Knaben nach und nach zu demselben Geschäft an.
Der junge Peter Munk, ein schlauer Bursche, ließ es sich gefallen, weil er es bei seinem Vater auch nicht anders gesehen hatte als die ganze Woche über am rauchenden Meiler zu sitzen oder, schwarz und berußt und den Leuten ein Abscheu, hinab in die Städte zu fahren und seine Kohlen zu verkaufen. Aber ein Köhler hat viel Zeit zum Nachdenken über sich und andere, und wenn Peter Munk an seinem Meiler saß, stimmten die dunklen Bäume umher und die tiefe Waldesstille sein Herz zu Tränen und unbewusster Sehnsucht. Es betrübte ihn etwas, es ärgerte ihn etwas - er wusste nicht recht was. Endlich merkte er, was ihn ärgerte, es war sein Stand. „Ein schwarzer, einsamer Kohlenbrenner!“ sagte er sich. „Es ist ein elendes Leben. Wie angesehen sind die Glasmänner, die Uhrmacher, selbst die Musikanten am Sonntagabend! Und wenn Peter Munk, rein gewaschen und geputzt, in des Vaters Ehrenwams mit silbernen Knöpfen und mit nagelneuen roten Strümpfen erscheint, und wenn dann einer hinter ihm hergeht und denkt, wer ist wohl der schlanke Bursche? und lobt bei sich die Strümpfe und den stattlichen Gang -sieh, wenn er vorübergeht und schaut sich um, sagt er gewiss: „Ach, es ist nur der Kohlenmunk-Peter!“
Auch die Flößer auf der anderen Seite waren ein Gegenstand seines Neides. Wenn diese Waldriesen herüberkamen, mit stattlichen Kleidern, und an Knöpfen, Schnallen und Ketten einen halben Zentner Silber auf dem Leib trugen, wenn sie mit gespreizten Beinen und vornehmen Gesichtern dem Tanz zuschauten, holländisch fluchten und wie die vornehmen Mynheers aus ellenlangen kölnischen Pfeifen rauchten – da stellte er sich als das vollendete Bild eines glücklichen Menschen solch einen Flößer vor. Und wenn diese Glücklichen dann erst in die Tasche fuhren, ganze Hände voll großer Taler herauslangten und um Sechsbätzner würfelten, fünf Gulden hin, zehn her – so wollten ihm die Sinne vergehen, und er schlich trübselig nach seiner Hütte. Denn an manchem Feiertag hatte er den einen oder den anderen dieser Holzherren mehr verspielen sehen, als der arme Vater Munk in einem Jahr verdiente. Es waren vornehmlich drei dieser Männer, von welchem er nicht wusste, welchen er am meisten bewundern sollte. Der eine war ein großer, dicker Mann mit rotem Gesicht und galt für den reichsten Mann in der Runde. Man hieß ihn den dicken Ezechiel. Er reiste alle Jahre zweimal mit Bauholz nach Amsterdam und hatte das Glück, es immer um so viel teurer als andere zu verkaufen, dass er, wenn die übrigen zu Fuß heimgingen, stattlich herauffahren konnte. Der andere war der längste und magerste Mensch im ganzen Wald, man nannte ihn den langen Schlucker, und diesen beneidete Munk wegen seiner ausnehmenden Kühnheit. Er widersprach den angesehensten Leuten, brauchte, wenn man noch so gedrängt im Wirtshaus saß, mehr Platz als vier der Dicksten, denn er stützte entweder beide Ellbogen auf den Tisch oder zog eines seiner langen Beine zu sich auf die Bank, und doch wagte ihm keiner zu widersprechen, denn er hatte unmenschlich viel Geld. Der dritte war ein schöner junger Mann, der am besten tanzte weit und breit, und daher den Namen Tanzbodenkönig hatte. Er war ein armer Mensch gewesen und hatte bei einem Holzherrn als Knecht gedient. Da wurde er auf einmal steinreich. Die einen sagten, er habe unter einer alten Tanne einen Topf voll Geld gefunden, die anderen behaupteten, er habe unweit Bingen im Rhein mit der Stechstange, womit die Flößer zuweilen nach den Fischen stechen, einen Packen mit Goldstücken heraufgefischt, und der Packen gehöre zu dem großen Nibelungenhort, der dort vergraben liegt. Kurz, er war auf einmal reich geworden und wurde von jung und alt angesehen wie ein Prinz.
An diese drei Männer dachte Kohlenmunk-Peter oft, wenn er einsam im Tannenwald saß. Zwar hatten alle drei einen Hauptfehler, der sie bei den Leuten verhasst machte. Es war dies ihr unmenschlicher Geiz, ihre Gefühllosigkeit gegen Schuldner und Arme, denn die Schwarzwäldler sind ein gutmütiges Völklein. Aber man weiß, wie es mit solchen Dingen zugeht. Waren sie auch wegen ihres Geizes verhasst, so standen sie doch wegen ihres Geldes in Ansehen. Denn wer konnte Taler wegwerfen wie sie, als ob man das Geld von den Tannen schüttelte?
"So geht es nicht mehr weiter", sagte Peter eines Tages schmerzlich betrübt zu sich, denn tags zuvor war Feiertag gewesen und alles Volk in der Schenke. "Wenn ich nicht bald auf den grünen Zweig komme, so tue ich mir etwas zuleide! Wäre ich doch nur so angesehen und reich wie der dicke Ezechiel oder so kühn und so gewaltig wie der lange Schlucker oder so berühmt und könnte den Musikanten Taler statt Kreuzer zuwerfen wie der Tanzbodenkönig! Wo nur der Bursche das Geld her hat?" Allerlei Mittel ging er durch, wie man sich Geld erwerben könne, aber keines wollte ihm gefallen. Endlich fielen ihm auch die Sagen von Leuten ein, die vor alten Zeiten durch den Holländer-Michel und durch das Glasmännlein reich geworden waren. Solange sein Vater noch lebte, kamen oft andere arme Leute zu Besuch, und da wurde lang und breit von reichen Menschen gesprochen, und wie sie reich geworden waren. Da spielte nun oft das Glasmännlein eine Rolle. Ja, wenn er recht nachsann, konnte er sich beinahe noch des Versleins erinnern, das man am Tannenbühl in der Mitte des Waldes sprechen musste, wenn er erscheinen sollte. Es fing an:
"Schatzhauser im grünen Tannenwald,
Bist schon viel hundert Jahre alt.
Dir gehört all Land, wo Tannen stehen - - -"


… Fortsetzung folgt …

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