Samstag, 11. Dezember 2010

Das Kalte Herz - Teil 3

Das Floß fuhr ab, und hatte der Michel früher die Holzhauer in Verwunderung gesetzt, so staunten jetzt die Flößer. Denn statt dass das Floß - wie man wegen der ungeheuren Balken geglaubt hatte - langsamer auf dem Fluss ging, floss es, sobald sie in den Neckar kamen, wie ein Pfeil. Machte der Neckar eine Wendung und hatten sonst die Flößer Mühe gehabt, das Floß in der Mitte zu halten und nicht auf Kies oder Sand zu stoßen, so sprang jetzt Michel allemal ins Wasser, rückte mit einem Zug das Floß links oder rechts, so dass es ohne Gefahr vorüberglitt, und kam dann eine gerade Stelle, so lief er aufs erste Gelenk vor, ließ alle ihre Stangen beisetzen, steckte seinen ungeheuren Weberbaum in den Kies und mit einem Druck flog das Floß dahin, dass das Land und Bäume und Dörfer vorbeizujagen schienen. 
So waren sie in der Hälfte der Zeit, die man sonst brauchte, nach Köln am Rhein gekommen, wo sie sonst ihre Ladung verkauft hatten, aber hier sprach Michel: "Ihr seid mir rechte Kaufleute und versteht euren Nutzen! Meint ihr denn, die Kölner brauchen all dies Holz, das aus dem Schwarzwald kommt, für sich? Nein, um den halben Wert kaufen sie es euch ab und verhandeln es teuer nach Holland. Lasst uns die kleinen Balken hier verkaufen und mit den großen nach Holland gehen. Was wir über den gewöhnlichen Preis lösen, ist unser eigener Profit."
So sprach der arglistige Michel, und die anderen waren es zufrieden. Die einen, weil sie gern nach Holland gezogen wären, es zu sehen, die andern des Geldes wegen. Nur ein einziger war redlich und riet ihnen ab, das Gut ihres Herrn der Gefahr auszusetzen oder ihn um den höheren Preis zu betrügen. Aber sie hörten nicht auf ihn und vergaßen seine Worte, aber der Holländer-Michel vergaß sie nicht. Sie fuhren auch mit dem Holz den Rhein hinab, Michel leitete das Floß und brachte es schnell bis nach Rotterdam. Dort bot man ihnen das vierfache von dem früheren Preis, und besonders die ungeheuren Balken des Michel wurden mit schwerem Geld bezahlt. Als die Schwarzwälder so viel Geld sahen, wussten sie sich vor Freude nicht zu fassen. Michel teilte ab. Einen Teil dem Holzherrn, die drei andern unter die Männer. Und nun setzten sie sich mit Matrosen und schlechtem Gesindel in die Wirtshäuser, verprassten und verspielten ihr Geld, den braven Mann aber, der ihnen abgeraten hatte, verkaufte der Holländer-Michel an einen Seelenverkäufer, und man hat nichts mehr von ihm gehört. Von da an war den Burschen im Schwarzwald Holland das Paradies und Holländer-Michel ihr König. Die Holzherren erfuhren lange nichts von dem Handel, und unvermerkt kamen Geld, Flüche, schlechte Sitten, Trunk und Spiel aus Holland herauf.
Der Holländer-Michel war aber, als die Geschichte herauskam, nirgends zu finden, aber tot ist er auch nicht. Seit hundert Jahren treibt er seinen Spuk im Wald, und man sagt, dass er schon vielen behilflich gewesen sei, reich zu werden - auf Kosten ihrer armen Seele -, und mehr will ich nicht sagen! Aber so viel ist gewiss, dass er noch jetzt in solchen Sturmnächten im Tannenbühl, wo man nicht hauen soll, überall die schönsten Tannen aussucht, und mein Vater hat ihn eine vier Schuh dicke umbrechen sehen wie ein Rohr. Mit diesen beschenkt er die, welche sich vom Rechten Weg abwenden und zu ihm gehen. Um Mitternacht bringen sie dann die Floßglieder ins Wasser, und er rudert mit ihnen nach Holland. Aber wäre ich Herr und König in Holland, ich ließe ihn mit Kartätschen in den Boden schmettern, denn alle Schiffe, die von dem Holländer-Michel auch nur einen Balken haben, müssen untergehen! Daher kommt es, dass man so viel von Schiffbrüchen hört. Wie könnte denn sonst ein schönes, starkes Schiff, so groß wie eine Kirche, zu Grund gehen auf dem Wasser? Aber so oft Holländer-Michel in einer Sturmnacht im Schwarzwald eine Tanne fällt, springt eine seiner alten aus den Fugen des Schiffes. Das Wasser dringt ein, und das Schiff ist mit Mann und Maus verloren. 
Das ist die Sage vom Holländer-Michel, und wahr ist es, alles Böse im Schwarzwald schreibt sich von ihm her. "Oh - er kann einen reich machen", setzte der Greis hinzu, "aber ich möchte nichts von ihm haben. Ich möchte um keinen Preis in der Haut des dicken Ezechiel und des langen Schluckers stecken. Auch der Tanzbodenkönig soll sich ihm ergeben haben!"
Der Sturm hatte sich während der Erzählung des Alten gelegt. Die Mädchen zündeten schüchtern die Lampen an und gingen weg. Die Männer aber legten Peter Munk einen Sack voll Laub als Kopfkissen auf die Ofenbank und wünschten ihm gute Nacht.
Kohlenmunk-Peter hatte noch nie so schwere Träume gehabt wie in dieser Nacht. Bald glaubte er, der finstere, riesige Holländer-Michel reiße die Stubenfenster auf und reiche mit seinem ungeheuer langen Arm einen Beutel voll Goldstücke herein, die er untereinander schüttelte, dass es hell und lieblich klang. Bald sah er wieder das kleine, freundliche Glasmännlein auf einer ungeheuren grünen Flasche im Zimmer umherreiten, und er meinte, das heisere Lachen wieder zu hören. Dann brummte es ihm wieder ins linke Ohr:
"In Holland gibt's Gold,
Könnt's haben,
Wenn ihr wollt.
Um geringen Sold.
Gold, Gold."
Dann hörte er wieder ins rechte Ohr das Liedchen vom Schatzhauser im grünen Tannenwald, und eine zarte Stimme flüsterte: "Dummer Kohlenpeter, dummer Peter Munk, kannst kein Sprüchlein reimen auf 'stehen', und bist doch am Sonntag geboren, Schlag zwölf Uhr. Reime, dummer Peter, reime!"
Er ächzte, er stöhnte im Schlaf, er mühte sich ab, einen Reim zu finden, aber da er in seinem Leben noch keinen gemacht hatte, war seine Mühe im Traum vergebens. Als er aber mit dem ersten Frührot erwachte, kam ihm sein Traum doch sonderbar vor. Er setzte sich mit verschränkten Armen hinter den Tisch und dachte über die Einflüsterungen nach, die ihm immer noch im Ohr lagen: "Reime, dummer Kohlenpeter, reime", sprach er zu sich und pochte mit dem Finger an seine Stirne, aber es wollte kein Reim hervorkommen. Als er noch so da saß und trübe vor sich hinschaute und an den Reim auf 'stehen' dachte, da zogen drei Burschen vor dem Haus vorbei in den Wald, und einer sang:
"Am Berge tat ich stehen
Und schaute in das Tal,
Da hab ich sie gesehen,
Zum allerletzten Mal."
Das fuhr wie ein leuchtender Blitz durch Peters Ohr, und hastig raffte er sich auf, stürzte aus dem Haus, weil er meinte, nicht recht gehört zu haben, sprang den drei Burschen nach und packte den Sänger hastig und unsanft beim Arm: "Halt, Freund!" rief er, "was habt Ihr da auf stehen gereimt, tut mir die Liebe und sprecht, was Ihr gesungen!"
"Was geht's dich an, Bursche?" entgegnete der Schwarzwälder. "Ich kann singen, was ich will, und lass gleich meinen Arm los, oder -"
"Nein, sagen sollst du, was du gesungen hast!" schrie Peter beinahe außer sich und packte noch fester. Die zwei andern aber, als sie dies sahen, zögerten nicht lange, sondern fielen mit derben Fäusten über den armen Peter her und walkten ihn derb, bis er vor Schmerzen den dritten losließ und erschöpft in die Knie sank. "Jetzt hast du dein Teil", sprachen sie lachend, "und merk dir, toller Bursch, dass du Leute, wie wir sind, nimmer anfällst auf offener Straße!"
"Ach, ich will es mir gewiss merken", erwiderte Kohlen-Peter seufzend. "Aber da ich die Schläge habe, seid so gut und sagt deutlich, was jener gesungen!"
Da lachten sie aufs neue und verspotteten ihn. Aber der das Lied gesungen hatte, sagte es ihm vor, und lachend und singend zogen sie weiter.
"Also sehen", sprach der arme Geschlagene, indem er sich mühsam aufrichtete. "Sehen und stehen - jetzt, Glasmännlein, wollen wir wieder ein Wort zusammen sprechen!" 
Er ging in die Hütte, holte seinen Hut und den langen Stock, nahm Abschied von den Bewohnern der Hütte und trat seinen Rückweg nach dem Tannenbühl an. Er ging langsam und sinnend seine Straße, denn er musste ja seinen Vers ersinnen. Endlich, als er schon in dem Bereich des Tannenbühls ging, und die Tannen höher und dichter wurden, hatte er auch seinen Vers gefunden und machte vor Freude einen Sprung in die Höhe. Da trat ein riesengroßer Mann in Flößerkleidung, eine Stange, so lang wie ein Mastbaum in der Hand, hinter den Tannen hervor. Peter Munk sank beinahe in die Knie, als er jenen langsamen Schrittes neben sich wandeln sah, denn er dachte, das ist der Holländer-Michel und kein anderer. Noch immer schwieg die furchtbare Gestalt, und Peter schielte zuweilen furchtsam nach ihm hin. Er war wohl einen Kopf größer als der längste Mann, den Peter je gesehen hatte. Sein Gesicht war nicht mehr jung, doch auch nicht alt, aber voll Furchen und Falten. Er trug ein Wams von Leinwand, und die ungeheuren Stiefel, über die Lederbeinkleider heraufgezogen, waren Peter aus der Sage wohlbekannt.
"Peter Munk, was tust du im Tannenbühl?" fragte der Waldkönig endlich mit tiefer, dröhnender Stimme.
"Guten Morgen, Landsmann", antwortete Peter, indem er sich unerschrocken zeigen wollte, aber heftig zitterte, " ich will durch den Tannenbühl nach Hause zurück."
"Peter Munk", erwiderte jener und warf einen stechenden, furchtbaren Blick nach ihm herüber, "dein Weg geht nicht durch diesen Hain!"
"Nun, so gerade just nicht" sagte jener, "aber es ist heute warm, da dachte ich, es würde hier kühler sein."
"Lüge nicht, du, Kohlen-Peter!" rief Holländer-Michel mit donnernder Stimme, "oder ich schlag dich mit der Stange zu Boden! Meinst, ich hab dich nicht betteln sehen bei dem Kleinen?" setzte er sanft hinzu. "Geh, geh, das war ein dummer Streich, und gut ist es, dass du das Sprüchlein nicht wusstest! Er ist ein Knauser, der kleine Kerl, und gibt nicht viel - und wem er gibt, der wird seines Lebens nicht froh. - Peter, du bist ein armer Tropf und dauerst mich in der Seele. So ein munterer, schöner Bursch, der in der Welt was anfangen könnte, und sollst Kohlen brennen! Wenn andere große Taler oder Dukaten aus dem Ärmel schütteln, kannst du kaum ein paar Sechser aufwenden!"
"Wahr ist's, und recht habt ihr, ein elendes Leben!"
"Na, mir soll's nicht darauf ankommen", fuhr der schreckliche Michel fort, "hab schon manchem braven Kerl aus der Not geholfen, und du wärst nicht der erste. Sag einmal, wie viel hundert Taler brauchst du fürs erste?"

… Fortsetzung folgt …

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