Freitag, 10. Dezember 2010

Das Kalte Herz - Teil 2


Aber er mochte sein Gedächtnis anstrengen, wie er wollte, weiter konnte er sich keines Verses mehr entsinnen. Er dachte oft, ob er nicht diesen oder jenen alten Mann fragen sollte, wie das Sprüchlein heiße. Aber immer hielt ihn eine gewisse Scheu, seine Gedanken zu verraten, ab. Auch schloss er, es müsse die Sage vom Glasmännlein nicht sehr bekannt sein, und den Spruch müssten nur wenige wissen. Denn es gab nicht viele reiche Leute im Wald, und - warum hatten denn nicht sein Vater und die anderen armen Leute ihr Glück versucht? Er brachte endlich seine Mutter auf das Männlein zu sprechen, und diese erzählte ihm, was er schon wusste, kannte auch nur die ersten Zeilen von dem Spruch und sagte ihm endlich, nur Leuten, die an einem Sonntag zwischen elf und zwei Uhr geboren seien, zeige sich das Geistchen. Er selbst würde wohl dazu passen, wenn er nur das Sprüchlein wüsste, denn er sei Sonntag mittags zwölf Uhr geboren.
Als dies der Kohlenmunk-Peter hörte, war er vor Freude und vor Begierde, dies Abenteuer zu unternehmen, ganz außer sich. Es schien ihm hinlänglich, einen Teil des Sprüchleins zu wissen und am Sonntag geboren zu sein - und das Glasmännlein musste sich ihm zeigen! Als er daher eines Tages seine Kohlen verkauft hatte, zündete er keinen neuen Meiler an, sondern zog seines Vaters Staatswams und neue rote Strümpfe an, setzte den Sonntagshut auf, fasste seinen fünf Fug hohen Schwarzdornstock in die Hand und nahm von der Mutter Abschied: "Ich muss aufs Amt in die Stadt, denn wir werden bald losen müssen, wer Soldat wird, und da will ich dem Amtmann nur noch einmal einschärfen, dass Ihr Witwe seid und ich Euer einziger Sohn!" Die Mutter lobte seinen Entschluss, er aber machte sich auf nach dem Tannenbühl. Der Tannenbühl liegt auf der höchsten Höhe des Schwarzwaldes, und auf zwei Stunden im Umkreis stand damals kein Dorf, ja nicht einmal eine Hütte. Denn die abergläubischen Leute meinten, es sei dort unsicher. Man schlug auch - so hoch und prachtvoll die Tannen dort standen - ungern Holz in jenem Revier. Denn oft waren den Holzhauern, wenn sie dort arbeiteten, die Äxte vom Stiel gesprungen und in den Fuß gefahren, oder die Bäume waren schnell umgestürzt und hatten die Männer mit umgerissen und beschädigt oder gar getötet. Auch hätte man die schönsten Bäume von dorther nur zu Brennholz brauchen können, denn die Floßherren nahmen nie einen Stamm aus dem Tannenbühl unter ein Floß auf, weil die Sage ging, dass Mann und Holz verunglückt, wenn ein Tannenbühler mit im Wasser sei. Daher kam es, dass im Tannenbühl die Bäume so dicht und so hoch standen, dass es am hellen Tage beinahe Nacht war, und Peter Munk wurde ganz schaurig dort zumut, denn er hörte keine Stimme, keinen Tritt als den seinigen, keine Axt. Selbst die Vögel schienen diese dichte Tannennacht zu vermeiden.
Kohlenmunk-Peter hatte jetzt den höchsten Punkt des Tannenbühls erreicht und stand vor einer Tanne von ungeheurem Umfang, für die ein holländischer Schiffsherr an Ort und Stelle viele hundert Gulden gegeben hätte. "Hier", dachte er, "wird wohl der Schatzhauser wohnen", zog seinen großen Sonntagshut, machte vor dem Baum eine tiefe Verbeugung, räusperte sich und sprach mit zitternder Stimme: "Wünsche glückseligen Abend, Herr Glasmann!" Aber es erfolgte keine Antwort, und alles umher war so still wie zuvor. "Vielleicht muss ich doch das Verslein sprechen", dachte er weiter und murmelte:
"Schatzhauser im grünen Tannenwald,
Bist schon viel hundert Jahre alt.
Dir gehört all Land, wo Tannen stehen - - -"
Indem er diese Worte sprach, sah er zu seinem großen Schrecken eine ganz kleine, sonderbare Gestalt hinter der dicken Tanne hervorschauen. Es war ihm, als habe er das Glasmännlein gesehen, wie man es beschrieben, das schwarze Wämschen, die roten Strümpfchen, das Hütchen - alles war so, selbst das blasse, aber feine und kluge Gesichtchen, wovon man erzählte, glaubte er gesehen zu haben. Aber ach, so schnell es hervorgeschaut hatte, das Glasmännlein, so schnell war es auch wieder verschwunden! "Herr Glasmann", rief nach einigem Zögern Peter Munk, "seid so gütig und haltet mich nicht zum Narren Herr Glasmann, wenn Ihr meint, ich habe Euch nicht gesehen, so täuscht Ihr Euch sehr, ich sah Euch wohl hinter dem Baum hervorgucken!" Immer noch keine Antwort, nur zuweilen glaubte er ein leises, heiseres Kichern hinter dem Baum zu vernehmen. Endlich überwand seine Ungeduld die Furcht, die ihn bis jetzt noch abgehalten hatte. "Warte, du kleiner Bursche!" rief er, "dich will ich bald haben!", sprang mit einem Satz hinter die Tanne - aber da war kein Schatzhauser im grünen Tannenwald, und nur ein kleines, zierliches Eichhörnchen jagte an dem Baum hinauf.
Peter Munk schüttelte den Kopf. Er sah ein, dass er die Beschwörung bis auf einen gewissen Grad gebracht hatte und dass ihm vielleicht nur noch ein Reim zu dem Sprüchlein fehlte, um das Glasmännlein hervorzulocken. Aber er sann hin - er sann her und fand nichts. Das Eichhörnchen zeigte sich an den untersten Ästen der Tanne und schien ihn aufzumuntern oder zu verspotten. Es putzte sich, es rollte den schönen Schweif, es schaute ihn mit klugen Augen an, aber endlich fürchtete er sich doch beinahe, mit diesem Tier allein zu sein, denn bald schien das Eichhörnchen einen Menschenkopf zu haben und einen dreispitzigen Hut zu tragen, bald war es ganz wie ein anderes Eichhörnchen und hatte nur an den Hinterfüßen rote Strümpfe und schwarze Schuhe. Kurz, es war ein lustiges Tier, aber dennoch graute Kohlen-Peter, denn er meinte, es gehe nicht mit rechten Dingen zu.
Mit schnelleren Schritten, als er gekommen war, zog Peter wieder ab. Das Dunkel des Tannenwaldes schien immer schwärzer zu werden, die Bäume standen immer dichter, und ihm fing so an zu grauen, dass er im Trab davonjagte, und erst, als er in der Ferne Hunde bellen hörte und bald darauf zwischen den Bäumen den Rauch einer Hütte erblickte, wurde er wieder ruhiger. Aber als er näher kam und die Tracht der Leute in der Hütte erblickte, fand er, dass er aus Angst gerade die entgegengesetzte Richtung genommen hatte und statt zu den Glasleuten zu den Flößern gekommen war. Die Leute, die in der Hütte wohnten, waren Holzfäller. Ein alter Mann, sein Sohn, der Hauswirt, einige erwachsene Enkel. Sie nahmen Kohlenmunk-Peter, der um ein Nachtlager bat, gut auf, ohne nach seinem Namen und Wohnort zu fragen, gaben ihm Apfelwein zu trinken, und abends wurde ein großer Auerhahn, die beste Schwarzwaldspeise, aufgetragen.
Nach dem Nachtessen setzten sich die Hausfrau und ihre Töchter mit ihren Kunkeln um den großen Lichtspan, den die Jungen mit dem feinsten Tannenharz unterhielten, der Großvater, der Gast und der Hauswirt rauchten und schauten den Weibern zu, die Burschen aber waren damit beschäftigt, Löffel und Gabeln aus Holz zu schnitzen. Draußen im Wald heulte der Sturm und raste in den Tannen, man hörte da und dort sehr heftige Schläge, und es schien oft, als ob ganze Bäume abgeknickt würden und zusammenkrachten. Die furchtlosen Jungen wollten hinaus in den Wald laufen und dies furchtbar schöne Schauspiel mit ansehen, ihr Großvater aber hielt sie mit strengem Wort und Blick zurück. "Ich will keinem raten, dass er jetzt vor die Tür geht", rief er ihnen zu. "Bei Gott, der kommt nimmer mehr wieder, denn der Holländer-Michel haut sich heute ein neues Floß im Wald!"
Die Kleinen staunten ihn an. Sie mochten von dem Holländer-Michel schon gehört haben, aber sie baten jetzt den Großvater recht schön, von jenem zu erzählen. Auch Peter Munk, der vom Holländer-Michel auf der andern Seite des Waldes nur ungenau hatte sprechen hören, stimmte mit ein und fragte den Alten, wer und wo er sei. "Er ist der Herr dieses Waldes, und nach dem zu schließen, dass ihr in Eurem Alter dies noch nicht erfahren habt, müsst Ihr drüben über dem Tannenbühl oder gar noch weiter zu Hause sein. Vom Holländer-Michel aber will ich Euch erzählen, was ich weiß und wie die Sage von ihm geht. Vor hundert Jahren - so erzählte es wenigstens mein Großvater - war weit und breit kein ehrlicheres Volk auf Erden als die Schwarzwälder. 
Jetzt, seit so viel Geld im Land ist, sind die Menschen unredlich und schlecht. Die jungen Burschen tanzen und johlen am Sonntag und fluchen, dass es ein Schrecken ist. Damals war es aber anders, und wenn er jetzt zum Fenster dort hereinschaute, so sag ich's und hab es oft gesagt, der Holländer-Michel ist schuld an all dieser Verderbnis. Es lebte also vor hundert Jahren und darüber ein reicher Holzherr, der viel Gesinde hatte. Er handelte bis weit in den Rhein hinab, und sein Geschäft war gesegnet, denn er war ein frommer Mann. Kommt eines Abends ein Mann an seine Tür, desgleichen er noch nie gesehen. Seine Kleidung war die der Schwarzwälder Burschen, aber er war einen guten Kopf höher als alle, und man hatte nie geglaubt, dass es einen solchen Riesen geben könne. Dieser bat um Arbeit bei dem Holzherrn, und der Holzherr, der ihm ansah, dass er stark und zu großen Lasten tüchtig war, bot ihm seinen Lohn und sie schlugen ein. Der Michel war ein Arbeiter, wie selbiger Holzherr noch keinen gehabt hatte. Beim Baumschlagen galt er für drei, und wenn sechs am einen Ende schleppten, trug er allein das andere. Als er aber ein halbes Jahr Holz geschlagen hatte, trat er eines Abends vor seinen Herrn und begehrte von ihm: "Habe jetzt lange genug hier Holz gehackt, und so möchte ich auch sehen, wohin meine Stämme kommen, und wie wäre es, wenn ihr mich auch einmal auf das Floß ließt? Der Holzherr antwortete: "Ich will dir nicht im Weg sein, Michel, wenn du ein wenig hinaus willst in die Welt. Zwar beim Holzfällen brauche ich starke Leute, wie du bist, auf dem Floß aber kommt es auf Geschicklichkeit an. Aber es sei für diesmal!" Und so war es.
Das Floß, mit dem er abgehen sollte, hatte acht Glieder, und im letzten waren von den größten Zimmerbalken. Aber was geschah? Am Abend zuvor brachte der lange Michel noch acht Balken ans Wasser, so dick und lang, wie man keinen je sah, und jeden trug er so leicht auf der Schulter wie eine Flößerstange, so dass sich alles entsetzte. Wo er sie gehauen hatte, weiß bis heute noch niemand. Dem Holzherrn lachte das Herz, als er dies sah. Denn er berechnete, was diese Balken kosten könnten. Michel aber sagte: "So, die sind für mich zum Fahren! Auf den kleinen Spänen dort kann ich nicht fortkommen." 
Sein Herr wollte ihm zum Dank ein Paar Flößerstiefel schenken. Aber er warf sie zur Seite und brachte ein Paar hervor, wie es sonst keine gab. Mein Großvater hat versichert, sie hätten hundert Pfund gewogen und seien fünf Fuß lang gewesen.


… Fortsetzung folgt …

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