Dienstag, 15. März 2011

Kein Märchen, aber trotzdem märchenhaft: "Ach, Ottoto ..." fix und fertig für die Buchmesse in Leipzig!

Sibylle Hoffmann (Foto: tofoto)
Das neueste Werk von Sibylle Hoffmann und Rolf ARVi Vogt wird am kommenden Wochenende in Leipzig vorgestellt. Wir freuen uns, dass es noch rechtzeitig fertig wurde und der mit den DREI HASEN befreundete GARBE Verlag von Ellen Vogt das Buch zeigen und anbieten wird! (Halle 2, Stand G 200).



Mittwoch, 26. Januar 2011

Der Mond


Vorzeiten gab es ein Land, wo die Nacht immer dunkel und der Himmel wie ein schwarzes Tuch darüber gebreitet war, denn es ging dort niemals der Mond auf, und kein Stern blinkte in der Finsternis. Bei Erschaffung der Welt hatte das nächtliche Licht ausgereicht. Aus diesem Land gingen einmal vier Burschen auf die Wanderschaft und gelangten in ein anderes Reich, wo abends, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, auf einem Eichbaum eine leuchtende Kugel stand, die weit und breit ein sanftes Licht ausgoss. Man konnte dabei alles wohl sehen und unterscheiden, wenn es auch nicht so glänzend wie die Sonne war. Die Wanderer standen still und fragten einen Bauer, der da mit seinem Wagen vorbeifuhr, was das für ein Licht sei. »Das ist der Mond,« antwortete dieser, »unser Schultheiß hat ihn für drei Taler gekauft und an den Eichbaum befestigt. Er muß täglich Öl aufgießen und ihn rein erhalten, damit er immer hell brennt. Dafür erhält er von uns wöchentlich einen Taler.«
Als der Bauer weggefahren war, sagte der eine von ihnen »diese Lampe könnten wir brauchen, wir haben daheim einen Eichbaum, der ebenso groß ist, daran können wir sie hängen. Was für eine Freude, wenn wir nachts nicht in der Finsternis herumtappen!« »Wißt ihr was?« sprach der zweite, »wir wollen Wagen und Pferde holen und den Mond wegführen. Sie können sich hier einen andern kaufen.« »Ich kann gut klettern,« sprach der dritte, »ich will ihn schon herunterholen!« Der vierte brachte einen Wagen mit Pferden herbei, und der dritte stieg den Baum hinauf, bohrte ein Loch in den Mond, zog ein Seil hindurch und ließ ihn herab. Als die glänzende Kugel auf dem Wagen lag, deckten sie ein Tuch darüber, damit niemand den Raub bemerken sollte. Sie brachten ihn glücklich in ihr Land und stellten ihn auf eine hohe Eiche. Alte und Junge freuten sich, als die neue Lampe ihr Licht über alle Felder leuchten ließ und Stuben und Kammern damit erfüllte. Die Zwerge kamen aus den Felsenhöhlen hervor, und die kleinen Wichtelmänner tanzten in ihren roten Röckchen auf den Wiesen den Ringeltanz.
Die vier versorgten den Mond mit Öl, putzten den Docht und erhielten wöchentlich ihren Taler. Aber sie wurden alte Greise, und als der eine erkrankte und seinen Tod voraussah, verordnete er, daß der vierte Teil des Mondes als sein Eigentum ihm mit in das Grab sollte gegeben werden. Als er gestorben war, stieg der Schultheiß auf den Baum und schnitt mit der Heckenschere ein Viertel ab, das in den Sarg gelegt ward. Das Licht des Mondes nahm ab, aber noch nicht merklich. Als der zweite starb, ward ihm das zweite Viertel mitgegeben, und das Licht minderte sich. Noch schwächer ward es nach dem Tod des dritten, der gleichfalls seinen Teil mitnahm, und als der vierte ins Grab kam, trat die alte Finsternis wieder ein. Wenn die Leute abends ohne Laterne ausgingen, stießen sie mit den Köpfen zusammen.
Als aber die Teile des Monds in der Unterwelt sich wieder vereinigten, so wurden dort, wo immer Dunkelheit geherrscht hatte, die Toten unruhig und erwachten aus ihrem Schlaf. Sie erstaunten, als sie wieder sehen konnten: das Mondlicht war ihnen genug, denn ihre Augen waren so schwach geworden, daß sie den Glanz der Sonne nicht ertragen hätten. Sie erhoben sich, wurden lustig und nahmen ihre alte Lebensweise wieder an. Ein Teil ging zum Spiel und Tanz, andere liefen in die Wirtshäuser, wo sie Wein forderten, sich betranken, tobten und zankten, und endlich ihre Knüppel aufhoben und sich prügelten. Der Lärm ward immer ärger und drang endlich bis in den Himmel hinauf.
Der heilige Petrus, der das Himmelstor bewacht, glaubte, die Unterwelt wäre in Aufruhr geraten, und rief die himmlischen Heerscharen zusammen, die den bösen Feind, wenn er mit seinen Gesellen den Aufenthalt der Seligen stürmen wollte, zurückjagen sollten. Da sie aber nicht kamen, so setzte er sich auf sein Pferd und ritt durch das Himmelstor hinab in die Unterwelt. Da brachte er die Toten zur Ruhe, hieß sie sich wieder in ihre Gräber zu legen und nahm den Mond mit fort, den er oben am Himmel aufhing.

Dienstag, 11. Januar 2011

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern


Es war entsetzlich kalt; es schneite, und der Abend dunkelte bereits; es war der letzte Abend im Jahre, Silvesterabend. In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging auf der Straße ein kleines armes Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten Füßen. Es hatte wohl freilich Pantoffel angehabt, als es von zu Hause fortging, aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Pantoffeln, sie waren früher von seiner Mutter gebraucht worden, so groß waren sie, und diese hatte die Kleine verloren, als sie über die Straße eilte, während zwei Wagen in rasender Eile vorüberjagten; der eine Pantoffel war nicht wiederaufzufinden und mit dem anderen machte sich ein Knabe aus dem Staube, welcher versprach, ihn als Wiege zu benutzen, wenn er einmal Kinder bekäme.
Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten zierlichen Füßchen, die vor Kälte ganz rot und blau waren. In ihrer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund hielt sie in der Hand. Während des ganzen Tages hatte ihr niemand etwas abgekauft, niemand ein Almosen gereicht. Hungrig und frostig schleppte sich die arme Kleine weiter und sah schon ganz verzagt und eingeschüchtert aus. Die Schneeflocken fielen auf ihr langes blondes Haar, das schön gelockt über ihren Nacken hinabfloss, aber bei diesem Schmucke weilten ihre Gedanken wahrlich nicht. Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz und über alle Straßen verbreitete sich der Geruch von köstlichem Gänsebraten. Es war ja Silvesterabend, und dieser Gedanke erfüllte alle Sinne des kleinen Mädchens.
In einem Winkel zwischen zwei Häusern, von denen das eine etwas weiter in die Straße vorsprang als das andere, kauerte es sich nieder. Seine kleinen Beinchen hatte es unter sich gezogen, aber es fror nur noch mehr und wagte es trotzdem nicht, nach Hause zu gehen, da es noch kein Schächtelchen mit Streichhölzern verkauft, noch keinen Heller erhalten hatte. Es hätte gewiss vom Vater Schläge bekommen, und kalt war es zu Hause ja auch; sie hatten das bloße Dach gerade über sich, und der Wind pfiff schneidend hinein, obgleich Stroh und Lumpen in die größten Ritzen gestopft waren. Ach, wie gut musste ein Schwefelhölzchen tun! Wenn es nur wagen dürfte, eins aus dem Schächtelchen herauszunehmen, es gegen die Wand zu streichen und die Finger daran zu wärmen! Endlich zog das Kind eins heraus. Ritsch! wie sprühte es, wie brannte es. Das Schwefelholz strahlte eine warme helle Flamme aus, wie ein kleines Licht, als es das Händchen um dasselbe hielt. Es war ein merkwürdiges Licht; es kam dem kleinen Mädchen vor, als säße es vor einem großen eisernen Ofen mit Messingbeschlägen und Messingverzierungen; das Feuer brannte so schön und wärmte so wohltuend! Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen - da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand - sie saß mit einem Stümpfchen des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand da.
Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und an der Stelle der Mauer, auf welche der Schein fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Flor. Die Kleine sah gerade in die Stube hinein, wo der Tisch mit einem blendend weißen Tischtuch und feinem Porzellan gedeckt stand, und köstlich dampfte die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllte, gebratene Gans darauf. Und was noch herrlicher war, die Gans sprang aus der Schüssel und watschelte mit Gabel und Messer im Rücken über den Fußboden hin; gerade die Richtung auf das arme Mädchen schlug sie ein. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke kalte Mauer war zu sehen.
Sie zündete ein neues an. Da saß die Kleine unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum; er war noch größer und weit reicher ausgeputzt als der, den sie am Heiligabend bei dem reichen Kaufmann durch die Glastür gesehen hatte. Tausende von Lichtern brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder, wie die, welche in den Ladenfenstern ausgestellt werden, schauten auf sie hernieder, die Kleine streckte beide Hände nach ihnen in die Höhe - da erlosch das Schwefelholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, und sie sah jetzt erst, dass es die hellen Sterne waren. Einer von ihnen fiel herab und zog einen langen Feuerstreifen über den Himmel.
"Jetzt stirbt jemand!" sagte die Kleine, denn die alte Großmutter, die sie allein freundlich behandelt hatte, jetzt aber längst tot war, hatte gesagt: "Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele zu Gott empor!"
Sie strich wieder ein Schwefelholz gegen die Mauer; es warf einen weiten Lichtschein ringsumher, und im Glanze desselben stand die alte Großmutter hell beleuchtet mild und freundlich da.
"Großmutter!" rief die Kleine, "oh, nimm mich mit dir! Ich weiß, dass du verschwindest, sobald das Schwefelholz ausgeht, verschwindest, wie der warme Kachelofen, der köstliche Gänsebraten und der große flimmernde Weihnachtsbaum!" Schnell strich sie den ganzen Rest der Schwefelhölzer an, die sich noch im Schächtelchen befanden, sie wollte die Großmutter festhalten; und die Schwefelhölzer verbreiteten einen solchen Glanz, dass es heller war als am lichten Tag. So schön, so groß war die Großmutter nie gewesen; sie nahm das kleine Mädchen auf ihren Arm, und hoch schwebten sie empor in Glanz und Freude; Kälte, Hunger und Angst wichen von ihm - sie war bei Gott.
Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten Tage des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der kleinen Leiche auf, die mit den Schwefelhölzern, wovon fast ein Schächtelchen verbrannt war, dasaß. "Sie hat sich wärmen wollen!" sagte man. Niemand wusste, was sie schönes gesehen hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Der Nußkaspar

überlieferte Erzählung

Wenn man von Nürnberg aus nach Norden schaut, so stellt sich dem Auge das berühmte Knoblauchland dar. Dort liegen mehrere anmutige Dörfchen, die von den Nürnbergern eifrig besucht werden.
In einer dieser Ortschaften lebte vor vielen Jahren ein Bäuerlein, 'Nußkaspar' genannt, weil auf seinen Bäumen die schönsten Nüsse wuchsen. Er trieb wie seine Nachbarn Gärtnerei und verlegte sich vorzüglich auf den Anbau von Knoblauch. Allein dem guten Mann mißglückte fast alles, was er unternahm. Bald wurde er durch bedeutende Verluste in Schulden gebracht, bald von den Nachbarn bestohlen, dann wieder vernichteten Wind und Wetter seine Garten- und Feldfrüchte, oder böse Buben holten ihm die Nüsse von den Bäumen.
Dieses andauernde Mißgeschick verdroß den Bauern endlich und nahm ihm die Lust, sich ferner zu plagen, zumal da er bemerkte, wie bei den Nachbarn alles aufs beste gedieh und ihr Wohlstand täglich zunahm. Daher wurde er nach und nach in der Ausübung seines Gewerbes lässiger, fluchte mehr als er betete, und ergab sich zuletzt dem Trunke, so daß er meistens, wenn er mit Knoblauch und anderen Gemüsen zur Stadt gefahren war, leicht an Geld, dafür aber mit schwerem Kopf nach Hause zurückkehrte. Durch diesen Lebenswandel wurde nicht nur sein Körper, sondern auch sein Vermögen so zerrüttet, daß er mehrfach Geld aufnehmen mußte, schließlich von seinen Gläubigern hart bedrängt wurde und zu ihrer Befriedigung zuletzt bald ein Grundstück, bald irgend etwas aus seinem Hausrat zu veräußern genötigt war.
Wieder einmal war der Nußkaspar am letzten Tag des Jahres wie so oft bis zum späten Abend in der Stadt geblieben, hatte sich einen tüchtigen Rausch angetrunken und taumelte nun den Burgweg hinauf. Unweit der Stelle, wo Christus am Ölberg abgebildet ist, setzte er sich auf einen beschneiten Steinblock, um auszuruhen, und schlief ein. Die Zerrbilder getäuschter Hoffnungen umgaukelten ihn in wüsten Träumen, so daß er öfters auffuhr und gräßliche Flüche ausstieß. Eben zeigte die Glocke vom nahen Sebaldusturm den Eintritt der Geisterstunde, als er abermals in die Höhe fuhr und in einem Zustande zwischen Schlaf und Wachen zähneklappernd vor sich hin murmelte: "Will mich Gott nicht retten, so muß mir der Teufel helfen!"
Mit diesen Worten erwachte er, rieb sich die Augen und wollte aufstehen, allein ein gewaltiger Schrecken warf ihn auf seinen kalten Sitz zurück; vor ihm stand ein Mann in Jägertracht, der ihn anredete: "Ei, Alterchen, was treibst du hier in der frostigen Winternacht?"
Kaspar fragte gähnend: "Wo bin ich, Herr, und was wollt Ihr von mir?"
Darauf erwiderte der Jäger: "Ich hörte im Vorübergehen, daß du Hilfe brauchst, und ich will sie leisten, wenn es in meinen Kräften steht, aber - ich will von dir darum gebeten sein."
Kaspar schilderte nun unter beständigen Verwünschungen seine traurige Lage, fiel auf die Knie und rief in unbegreiflicher Herzensangst: "Ich flehe Euch fußfällig an, helft mir, helft mir, und wäret Ihr der Böse selbst; mir gleich, wenn mir nur geholfen wird; denn Gott hat mich ohnedies verlassen."
"Nun wohl," entgegnete der Fremde, "wenn du mir versprichst, weder deinem Weib noch einem anderen Menschen auch nur eine Silbe davon zu verraten, so will ich dein Beschützer sein und dir helfen. Kehre getrost heim, pflücke von dem großen Nußbaum, der in der linken Ecke deines Gartens steht, so viel Nüsse, als dir beliebt; diese werden sich in Gold verwandeln und dich instand setzen, nicht nur deine Schulden zu bezahlen, sondern auch ohne Mühe und Arbeit gut leben zu können. Doch wisse, geht nur ein Wort von meinem Angebot über deine Lippen, so sinkst du in deine frühere Armut zurück, wirst ein Raub der Verzweiflung und sollst auch im Grab keine Ruhe finden. Du mußt dann in jeder Silvesternacht deinem Grabe entsteigen und hier an dieser Stelle goldene Nüsse feil halten; ja, du wirst auch andere noch mit ins Verderben hinabziehen, und deine Seele ist mir verfallen."
Mit diesen Worten verschwand die geheimnisvolle Erscheinung.
Daß der freundliche Helfer der leibhaftige Gottseibeiuns war, ist leicht zu erraten.
Kaspar war demnach in sehr schlimme Hände gefallen. Er taumelte noch halb trunken mit schlotternden Knien nach Hause. Sein Weib, das ohnehin zur Sorte jener Menschen gehörte, denen Zanken und Murren zur zweiten Natur geworden ist, empfing ihn vom Bett aus mit heftigen Scheltworten. Er aber blieb ruhig und dachte: "Schrei nur, du Zankteufel, soviel du willst; habe ich einmal die goldenen Nüsse, dann wirst du schon anders singen!" Damit nahm er eine Laterne, zündete das Licht an und schlich in den Garten hinaus. Hier stellte er sich vor den bezeichneten Baum und schielte hinauf, um zu sehen, ob die Nüsse wirklich von Gold seien. Endlich bestieg er zagend den Baum, griff zitternd nach einer der Früchte, füllte dann so schnell als möglich alle Taschen damit, und siehe, die Nüsse waren reines, funkelndes Gold. Darauf versteckte er seinen Schatz in der Scheune und ging zu Bett.
Bei Tagesanbruch stahl sich der steinreiche Ehemann, dessen Gewissen nun schon eingeschläfert war, still weg zum Geschenke des höllischen Jägers, um es teilweise in der nahen Stadt in Geld umzusetzen. Sodann zahlte er seine Schulden und lebte herrlich und in Freuden.
Aber dieses Glück sollte nicht lange dauern; denn der gute Nußkaspar vergaß im Taumel der Ausschweifungen nur zu bald, was er dem Teufel versprochen hatte. In einem traulichen Stündchen beichtete er seiner Frau, die sich durch den unvermuteten Wohlstand vollständig mit ihm ausgesöhnt hatte, den ganzen Hergang der Sache. Als er aber am nächsten Morgen sein Geld herbeiholen wollte, da war der Beutel federleicht und enthielt statt harter Taler nur Kohlenstaub, und anstatt der goldenen fanden sich nur natürliche und größtenteils wurmstichige Nüsse im Schrank. So von der Höhe des Glückes in das bitterste Elend hinabgeschleudert, wurde dem Kaspar das Leben eine unerträgliche Last.
Der Teufel hielt besser Wort als Kaspar; denn es ging alles in Erfüllung, was er für den Fall des Wortbruches vorausgesagt hatte. Als der Silvesterabend wieder anbrach, stand wirklich zur Mitternachtszeit ein kleines Bäuerlein in der Tracht der Knoblauchhändler mit einem Korb am Ölberg und ächzte unter verzweifeltem Händeringen: "Kauft Nüsse, kauft Nüsse!"
Viele Jahre nach diesem Ereignis saßen am Silvesterabend mehrere Bürger nicht weit vom Ölberg im Gasthaus zum Burggrafen bei einem Krug Weizenbier. Unter diesen war auch ein redseliger Zinngießermeister, der wegen seiner Klugheit in großem Ansehen stand. Die Unterhaltung drehte sich um die alte Sage vom Nußkaspar am Ölberg. "Aberglaube, heidnische Finsternis!" eiferte Meister Zinngießer, der Wortführer. "Wer wird so albern sein, an Teufel und Geister zu glauben?"
"Was, Nachbar?" fiel ihm ein belesener Zirkelschmied in die Rede, "habt Ihr denn nicht gelesen, daß Doktor Martin Luther dem Teufel das Tintenfaß nachgeworfen hat? Ist Euch nicht bekannt, daß der Satan Jesus in Versuchung führte?"
"Das ist etwas anderes," unterbrach ihn der Zinngießer, und gerade als er weiterreden wollte, erscholl von der Wanduhr die zwölfte Stunde. Da schlug der Meister unwillig auf den Tisch und schrie: "Damit ihr aber seht, daß an der ganzen Sache nichts ist und jeder ein Narr, der so unsinnige Dinge glaubt, so wollen wir auf den Ölberg gehen, um uns zu überzeugen, ob der Nußkaspar wirklich seine Nüsse feilhält. Mein Hab und Gut setz, ich daran, daß ich euch auslachen werde."
Hierauf nahm er seine Pelzmütze und eilte der Türe zu; doch von den übrigen Gästen hatte keiner Lust, ihn zu begleiten. Stockfinster war's, und nur der schimmernde Schnee erleuchtete die Umgebung. Da kam es dem Zinngießer wirklich so vor, als ob er in der Nähe des Ölberges die Gestalt eines Menschen wahrnehme, und er blieb stehen. Es fröstelte ihn, aber die Vorstellung, von den Freunden verspottet zu werden, wenn er unverrichteter Dinge zurückkäme, flößte ihm Mut ein; er wollte der Sache auf den Grund gehen.
Also schritt der Zinngießer langsam näher und rief mit lauter Stimme: "Wer da?" - Keine Antwort! - Plötzlich stand ein kleines unheimliches Wesen ganz nahe vor ihm, stierte ihn mit Grabesaugen an und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den vor ihm stehenden Korb. Unser Zinngießer stand wie an den Boden gewurzelt und kreischte mit kaum verständlichen Lauten : "Alle guten Geister loben Gott den Herrn!" Fast besinnungslos griff er sodann in den Korb, nahm daraus, was er mit seinen zehn Fingern fassen konnte, und stürzte ohnmächtig zusammen.
Als er wieder zur Besinnung gekommen war, blickte er um sich.
Aber er sah kein Wesen mehr, weder vor noch hinter sich. Jetzt faßte er wieder Mut und schämte sich seines Schreckens. Doch welches Erstaunen trat an die Stelle der Furcht, als er auf den schneebedeckten Boden blickte und ihm glänzendes Gold entgegenfunkelte! Schnell raffte er die goldenen Dinger zusammen und eilte dem Burggrafen zu. Die Gesellschaft begrüßte ihn, als wäre er von den Toten auferstanden, und war sehr gespannt zu hören, was er erlebt habe. Und der Meister erzählte sein Abenteuer, indem er zum Beweis einige goldene Nüsse aus der Tasche nahm und auf den Tisch hinrollte.
Da war auf einmal alle Großsprecherei verstummt; denn nicht ohne heimliches Grauen sah man die glänzenden Beweise vor Augen. Der Zinngießer aber entfernte sich bald und suchte freudetrunken sein Nachtlager auf. Allein der Schlaf floh ihn diese und noch manch andere Nacht; denn ihn quälten Zukunftspläne und die Sorge um die Vermehrung des unheilvollen Geldes. Mit seinem Glück war zugleich das Unglück in seine vier Wände eingezogen. Aus dem zufriedenen Meister war ein griesgrämiger Sauertopf geworden. Durch unkluge Unternehmungen verlor er manches schöne Kapital, und nach wenigen Jahren bewahrheitete sich an ihm das Sprichwort: Wie gewonnen, so zerronnen. Doch als er immer ärmer wurde, machte die Not seinem jammervollen Leben ein Ende.
Und es erfüllte sich des Teufels Vorhersage, der Nußkaspar werde auch noch andere mit ins Verderben ziehen.

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Der Tannenbaum

Draußen im Walde stand ein niedlicher, kleiner Tannenbaum; er hatte einen guten Platz, Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsumher wuchsen viel größere Kameraden, sowohl Tannen als Fichten. Aber dem kleinen Tannenbaum schien nichts so wichtig wie das Wachsen; er achtete nicht der warmen Sonne und der frischen Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die da gingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen, dann setzten sie sich neben den kleinen Tannenbaum und sagten: "Wie niedlich klein ist der!" Das mochte der Baum gar nicht hören.
Im folgenden Jahre war er ein langes Glied größer, und das Jahr darauf war er um noch eins länger, denn bei den Tannenbäumen kann man immer an den vielen Gliedern, die sie haben, sehen, wie viele Jahre sie gewachsen sind.
"Oh, wäre ich doch so ein großer Baum wie die andern!" seufzte das kleine Bäumchen. "Dann könnte ich meine Zweige so weit umher ausbreiten und mit der Krone in die Welt hinausblicken! Die Vögel würden dann Nester zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn der Wind weht, könnte ich so vornehm nicken, gerade wie die andern dort!"
Er hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vögeln und den roten Wolken, die morgens und abends über ihn hinsegelten.
War es nun Winter und der Schnee lag ringsumher funkelnd weiß, so kam häufig ein Hase angesprungen und setzte gerade über den kleinen Baum weg. Oh, das war ärgerlich! Aber zwei Winter vergingen, und im dritten war das Bäumchen so groß, dass der Hase um es herumlaufen musste. "Oh, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzige Schöne in dieser Welt!" dachte der Baum.
Im Herbst kamen immer Holzhauer und fällten einige der größten Bäume; das geschah jedes Jahr, und dem jungen Tannenbaum, der nun ganz gut gewachsen war, schauderte dabei; denn die großen, prächtigen Bäume fielen mit Knacken und Krachen zur Erde, die Zweige wurden abgehauen, die Bäume sahen ganz nackt, lang und schmal aus; sie waren fast nicht zu erkennen. Aber dann wurden sie auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie davon, aus dem Walde hinaus.
Wohin sollten sie? Was stand ihnen bevor?
Im Frühjahr, als die Schwalben und Störche kamen, fragte sie der Baum: "Wisst ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid ihr ihnen begegnet?"
Die Schwalben wussten nichts, aber der Storch sah nachdenkend aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: "Ja, ich glaube wohl; mir begegneten viele neue Schiffe, als ich aus Ägypten flog; auf den Schiffen waren prächtige Mastbäume; ich darf annehmen, dass sie es waren, sie hatten Tannengeruch; ich kann vielmals von ihnen grüßen, sie sind schön und stolz!"
"Oh, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfahren zu können! Was ist das eigentlich, dieses Meer, und wie sieht es aus?"
"Ja, das ist viel zu weitläufig zu erklären!" sagte der Storch, und damit ging er.
"Freue dich deiner Jugend!" sagten die Sonnenstrahlen; "freue dich deines frischen Wachstums, des jungen Lebens, das in dir ist!"
Und der Wind küsste den Baum, und der Tau weinte Tränen über ihn, aber das verstand der Tannenbaum nicht.
Wenn es gegen die Weihnachtszeit war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die oft nicht einmal so groß oder gleichen Alters mit diesem Tannenbäume waren, der weder Rast noch Ruhe hatte, sondern immer davon wollte; diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige; sie wurden auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie zum Walde hinaus.
"Wohin sollen diese?" fragte der Tannenbaum. "Sie sind nicht größer als ich, einer ist sogar viel kleiner; weswegen behalten sie alle ihre Zweige? Wohin fahren sie?"
"Das wissen wir! Das wissen wir!" zwitscherten die Meisen. "Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren! Oh, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die man sich denken kann! Wir haben in die Fenster gesehen und erblickt, dass sie mitten in der warmen Stube aufgepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug, und vielen hundert Lichtern geschmückt werden."
"Und dann?" fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. "Und dann? Was geschieht dann?" 
"Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich schön!"
"Ob ich wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu betreten?" jubelte der Tannenbaum. "Das ist noch besser als über das Meer zu ziehen! Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und entfaltet wie die andern, die im vorigen Jahre davon geführt wurden! Oh, wäre ich erst auf dem Wagen, wäre ich doch in der warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, warum würden sie mich sonst so schmücken? Es muss noch etwas Größeres, Herrlicheres kommen! Aber was? Oh, ich leide, ich sehne mich, ich weiß selbst nicht, wie mir ist!"
"Freue dich unser!" sagten die Luft und das Sonnenlicht; "freue dich deiner frischen Jugend im Freien!"
Aber er freute sich durchaus nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün; dunkelgrün stand er da, die Leute, die ihn sahen, sagten: "Das ist ein schöner Baum!" und zur Weihnachtszeit wurde er von allen zuerst gefällt. Die Axt hieb tief durch das Mark; der Baum fiel mit einem Seufzer zu Boden, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgendein Glück denken, er war betrübt, von der Heimat scheiden zu müssen, von dem Flecke, auf dem er emporgeschossen war; er wusste ja, dass er die lieben, alten Kameraden, die kleinen Büsche und Blumen ringsumher nie mehr sehen werde, ja vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise hatte durchaus nichts Behagliches.
Der Baum kam erst wieder zu sich selbst, als er im Hofe mit andern Bäumen abgeladen wurde und einen Mann sagen hörte: "Dieser hier ist prächtig! Wir wollen nur den!"
Nun kamen zwei Diener im vollen Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen, schönen Saal. Ringsherum an den Wänden hingen Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln; da waren Wiegestühle, seidene Sofas, große Tische voll von Bilderbüchern und Spielzeug für hundertmal hundert Taler; wenigstens sagten das die Kinder. Der Tannenbaum wurde in ein großes, mit Sand gefälltes Fass gestellt, aber niemand konnte sehen, dass es ein Fass war, denn es wurde rundherum mit grünem Zeug behängt und stand auf einem großen, bunten Teppich. Oh, wie der Baum bebte! Was würde da wohl vorgehen? Sowohl die Diener als die Fräulein schmückten ihn. An einen Zweig hängten sie kleine, aus farbigem Papier ausgeschnittene Netze, und jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt. Vergoldete Apfel und Walnüsse hingen herab, als wären sie festgewachsen, und über hundert rote, blaue und weiße kleine Lichter wurden in den Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaft wie die Menschen aussahen - der Baum hatte früher nie solche gesehen -, schwebten im Grünen, und hoch oben in der Spitze wurde ein Stern von Flittergold befestigt. Das war prächtig, ganz außerordentlich prächtig!
"Heute Abend", sagten alle, "heute Abend wird er strahlen!" und sie waren außer sich vor Freude.
"Oh" dachte der Baum, "wäre es doch Abend! Würden nur die Lichter bald angezündet! Und was dann wohl geschieht? Ob da wohl Bäume aus dem Walde kommen, mich zu sehen? Ob die Meisen gegen die Fensterscheiben fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehen werde?"
Ja, er wusste gut Bescheid; aber er hatte ordentlich Borkenschmerzen vor lauter Sehnsucht, und Borkenschmerzen sind für einen Baum ebenso schlimm wie Kopfschmerzen für uns andere.
Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum bebte in allen Zweigen dabei, so dass eins der Lichter das Grüne anbrannte; es sengte ordentlich.
"Gott bewahre uns!" schrieen die Fräulein und löschten es hastig aus.
Nun durfte der Baum nicht einmal beben. Oh, das war ein Grauen! Ihm war bange, etwas von seinem Staate zu verlieren; er war ganz betäubt von all dem Glanze. Da gingen beide Flügeltüren auf, und eine Menge Kinder stürzte herein, als wollten sie den ganzen Baum umwerfen, die älteren Leute kamen bedächtig nach; die Kleinen standen ganz stumm, aber nur einen Augenblick, dann jubelten sie wieder, dass es laut schallte; sie tanzten um den Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt und verteilt.
"Was machen sie?" dachte der Baum. "Was soll geschehen?" Die Lichter brannten gerade bis auf die Zweige herunter, und je nachdem sie nieder brannten, wurden sie ausgelöscht, und dann erhielten die Kinder die Erlaubnis, den Baum zu plündern. Sie stürzten auf ihn zu, dass es in allen Zweigen knackte; wäre er nicht mit der Spitze und mit dem Goldstern an der Decke festgemacht gewesen, so wäre er umgefallen.
Die Kinder tanzten mit ihrem prächtigen Spielzeug herum, niemand sah nach dem Baume, ausgenommen das alte Kindermädchen, das zwischen die Zweige blickte; aber es geschah nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige oder ein Apfel vergessen sei.
"Eine Geschichte, eine Geschichte!" riefen die Kinder und zogen einen kleinen, dicken Mann gegen den Baum hin, und er setzte sich gerade unter ihn, "denn so sind wir im Grünen", sagte er, "und der Baum kann besonders Nutzen davon haben, zuzuhören! Aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt ihr die von Ivede-Avede oder die von Klumpe-Dumpe hören, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin bekam?"
"Ivede-Avede!" schrieen einige, "Klumpe-Dumpe!" schrieen andere. Das war ein Rufen! Nur der Tannenbaum schwieg ganz still und dachte: "Komme ich gar nicht mit, werde ich nichts dabei zu tun haben?" Er hatte ja geleistet, was er sollte.
Der Mann erzählte von Klumpe-Dumpe, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin bekam. Und die Kinder klatschten in die Hände und riefen: "Erzähle, erzähle!" Sie wollten auch die Geschichte von Ivede-Avede hören, aber sie bekamen nur die von Klumpe-Dumpe. Der Tannenbaum stand ganz stumm und gedankenvoll, nie hatten die Vögel im Walde dergleichen erzählt. Klumpe-Dumpe fiel die Treppen hinunter und bekam doch die Prinzessin! "Ja, ja, so geht es in der Welt zu!" dachte der Tannenbaum und glaubte, dass es wahr sei, weil ein so netter Mann es erzählt hatte.
"Ja, ja! Vielleicht falle ich auch die Treppe hinunter und bekomme eine Prinzessin!" Und er freute sich, den nächsten Tag wieder mit Lichtern und Spielzeug, Gold und Früchten und dem Stern von Flittergold aufgeputzt zu werden. "Morgen werde ich nicht zittern!" dachte er. "Ich will mich recht aller meiner Herrlichkeit freuen. Morgen werde ich wieder die Geschichte von Klumpe-Dumpe und vielleicht auch die von Ivede-Avede hören." Und der Baum stand die ganze Nacht still und gedankenvoll.
Am Morgen kamen die Diener und das Mädchen herein.
"Nun beginnt der Staat aufs neue!" dachte der Baum; aber sie schleppten ihn zum Zimmer hinaus, die Treppe hinauf, auf den Boden und stellten ihn in einen dunklen Winkel, wohin kein Tageslicht schien. "Was soll das bedeuten?" dachte der Baum. "Was soll ich hier wohl machen? Was mag ich hier wohl hören sollen?" Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte und dachte. Und er hatte Zeit genug, denn es vergingen Tage und Nächte; niemand kam herauf, und als endlich jemand kam, so geschah es, um einige große Kasten in den Winkel zu stellen; der Baum stand ganz versteckt, man musste glauben, dass er ganz vergessen war.
"Nun ist es Winter draußen!" dachte der Baum. "Die Erde ist hart und mit Schnee bedeckt, die Menschen können mich nicht pflanzen; deshalb soll ich wohl bis zum Frühjahr hier im Schutz stehen! Wie wohlbedacht ist das! Wie die Menschen doch so gut sind! Wäre es hier nur nicht so dunkel und schrecklich einsam! Nicht einmal ein kleiner Hase! Das war doch niedlich da draußen im Walde, wenn der Schnee lag und der Hase vorbeisprang, ja selbst als er über mich hinwegsprang; aber damals mochte ich es nicht leiden. Hier oben ist es doch schrecklich einsam!"
"Piep, piep!" sagte da eine kleine Maus und huschte hervor; und dann kam noch eine kleine. Sie beschnüffelten den Tannenbaum, und dann schlüpften sie zwischen seine Zweige.
"Es ist eine gräuliche Kälte!" sagten die kleinen Mäuse. "Sonst ist hier gut sein; nicht wahr, du alter Tannenbaum?"
"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Tannenbaum; "es gibt viele, die weit älter sind denn ich!"
"Woher kommst du?" fragten die Mäuse, "und was weißt du?" Sie waren gewaltig neugierig. "Erzähle uns doch von den schönsten Orten auf Erden! Bist du dort gewesen? Bist du in der Speisekammer gewesen, wo Käse auf den Brettern liegen und Schinken unter der Decke hängen, wo man auf Talglicht tanzt, mager hineingeht und fett herauskommt?"
"Das kenne ich nicht", sagte der Baum; "aber den Wald kenne ich, wo die Sonne scheint und die Vögel singen!" Und dann erzählte er alles aus seiner Jugend. Die kleinen Mäuse hatten früher nie dergleichen gehört, sie horchten auf und sagten: "Wie viel du gesehen hast! Wie glücklich du gewesen bist!"
"Ich?" sagte der Tannenbaum und dachte über das, was er selbst erzählte, nach. "Ja, es waren im Grunde ganz fröhliche Zeiten!" Aber dann erzählte er vom Weihnachtsabend, wo er mit Zuckerwerk und Lichtern geschmückt war.
"Oh", sagten die kleinen Mäuse, "wie glücklich du gewesen bist, du alter Tannenbaum!"
"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Baum; "erst in diesem Winter bin ich aus dem Walde gekommen! Ich bin in meinem allerbesten Alter, ich bin nur so aufgeschossen."
"Wie schön du erzählst!" sagten die kleinen Mäuse, und in der nächsten Nacht kamen sie mit vier anderen kleinen Mäusen, die den Baum erzählen hören sollten, und je mehr er erzählte, desto deutlicher erinnerte er sich selbst an alles und dachte: "Es waren doch ganz fröhliche Zeiten! Aber sie können wiederkommen, können wiederkommen! Klumpe-Dumpe fiel die Treppe hinunter und bekam doch die Prinzessin; vielleicht kann ich auch eine Prinzessin bekommen." Und dann dachte der Tannenbaum an eine kleine, niedliche Birke, die draußen im Walde wuchs; das war für den Tannenbaum eine wirkliche, schöne Prinzessin.
"Wer ist Klumpe-Dumpe?" fragten die kleinen Mäuse. Da erzählte der Tannenbaum das ganze Märchen, er konnte sich jedes einzelnen Wortes entsinnen; die kleinen Mäuse sprangen aus reiner Freude bis an die Spitze des Baumes. In der folgenden Nacht kamen weit mehr Mäuse und am Sonntage sogar zwei Ratten, aber die meinten, die Geschichte sei nicht hübsch, und das betrübte die kleinen Mäuse, denn nun hielten sie auch weniger davon.
"Wissen Sie nur die eine Geschichte?" fragten die Ratten.
"Nur die eine", antwortete der Baum; "die hörte ich an meinem glücklichsten Abend, aber damals dachte ich nicht daran, wie glücklich ich war."
"Das ist eine höchst jämmerliche Geschichte! Kennen Sie keine von Speck und Talglicht? Keine Speisekammergeschichte?"
"Nein!" sagte der Baum." "Ja, dann danken wir dafür!" erwiderten die Ratten und gingen zu den Ihrigen zurück.
Die kleinen Mäuse blieben zuletzt auch weg, und da seufzte der Baum: "Es war doch ganz hübsch, als sie um mich herumsaßen, die beweglichen kleinen Mäuse, und zuhörten, wie ich erzählte! Nun ist auch das vorbei! Aber ich werde gerne daran denken, wenn ich wieder hervorgenommen werde."
Aber wann geschah das? Ja, es war eines Morgens, da kamen Leute und wirtschafteten auf dem Boden; die Kasten wurden weggesetzt, der Baum wurde hervorgezogen; sie warfen ihn freilich ziemlich hart gegen den Fußboden, aber ein Diener schleppte ihn gleich nach der Treppe hin, wo der Tag leuchtete.
"Nun beginnt das Leben wieder!" dachte der Baum; er fühlte die frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen, und nun war er draußen im Hofe. Alles ging geschwind, der Baum vergaß völlig, sich selbst zu betrachten, da war so vieles ringsumher zu sehen. Der Hof stieß an einen Garten, und alles blühte darin; die Rosen hingen frisch und duftend über das kleine Gitter hinaus, die Lindenbäume blühten, und die Schwalben flogen umher und sagten: "Quirrevirrevit, mein Mann ist kommen!" Aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten.
"Nun werde ich leben!" jubelte der und breitete seine Zweige weit aus; aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb; und er lag da zwischen Unkraut und Nesseln. Der Stern von Goldpapier saß noch oben in der Spitze und glänzte im hellen Sonnenschein.
Im Hofe selbst spielten ein paar der munteren Kinder, die zur Weihnachtszeit den Baum umtanzt hatten und so froh über ihn gewesen waren. Eins der kleinsten lief hin und riss den Goldstern ab.
"Sieh, was da noch an dem hässlichen, alten Tannenbaum sitzt!" sagte es und trat auf die Zweige, so dass sie unter seinen Stiefeln knackten.
Der Baum sah auf all die Blumenpracht und Frische im Garten, er betrachtete sich selbst und wünschte, dass er in seinem dunklen Winkel auf dem Boden geblieben wäre; er gedachte seiner frischen Jugend im Walde, des lustigen Weihnachtsabends und der kleinen Mäuse, die so munter die Geschichte von Klumpe-Dumpe angehört hatten.
"Vorbei, vorbei!" sagte der arme Baum. "Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei, vorbei!"
Der Diener kam und hieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzes Bund lag da; hell flackerte es auf unter dem großen Braukessel. Der Baum seufzte tief, und jeder Seufzer war einem kleinen Schusse gleich; deshalb liefen die Kinder, die da spielten, herbei und setzten sich vor das Feuer, blickten hinein und riefen: "Piff, paff!" Aber bei jedem Knalle, der ein tiefer Seufzer war, dachte der Baum an einen Sommerabend im Walde oder an eine Winternacht da draußen, wenn die Sterne funkelten; er dachte an den Weihnachtsabend und an Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, das er gehört hatte und zu erzählen wusste - und dann war der Baum verbrannt.
Die Knaben spielten im Garten, und der kleinste hatte den Goldstern auf der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen hatte. Nun war der vorbei, und mit dem Baum war es vorbei und mit der Geschichte auch; vorbei, vorbei.
Und so geht es mit allen Geschichten!

Dienstag, 21. Dezember 2010

Die Geschichte vom kleinen Muck

In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den kleinen Muck hieß. Ich kann ihn mir - obgleich ich damals noch sehr jung war noch recht wohl denken, besonders weil ich seinetwegen einmal von meinem Vater halbtot geprügelt wurde. Der kleine Muck nämlich war schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte, doch war er nur drei bis vier Schuh hoch. Dabei hatte er eine sonderbare Gestalt. Denn sein Leib, so zierlich und klein er war, musste einen Kopf tragen, viel größer und dicker als der Kopf anderer Leute. Er wohnte ganz allein in einem großen Haus und kochte sich sogar selbst. Auch hätte man in der Stadt nicht gewusst, ob er lebe oder gestorben sei - denn er ging nur alle vier Wochen einmal aus - wenn nicht um die Mittagsstunde ein mächtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen wäre. Doch sah man ihn abends oft auf seinem Dach auf und ab gehen, von der Straße aus glaubte man aber, nur sein Kopf allein laufe auf dem Dach umher. Ich und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne neckten und auslachten. Daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der kleine Muck ausging. Wir versammelten uns an dem bestimmten Tag vor seinem Haus und warteten, bis er herauskam. Wenn dann die Tür aufging und zuerst der große Kopf mit dem noch größeren Turban herausguckte, wenn das übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit einem abgeschabten Mäntelein, weiten Beinkleidern und einem breiten Gürtel, an welchem ein langer Dolch hing, so lang, dass man nicht wusste, ob Muck an dem Dolch oder der Dolch an Muck stak - wenn er so heraustrat, da ertönte die Luft von unserem Freudengeschrei, wir warfen unsere Mützen in die Höhe und tanzten wie toll um ihn her.
Der kleine Muck aber grüßte uns mit ernsthaftem Kopfnicken und ging mit langsamen Schritten die Straße hinab. Dabei schlurfte er mit den Füßen, denn er hatte weite, große Pantoffeln an, wie ich sie noch nie gesehen. Wir Knaben liefen hinter ihm her und schrieen immer: "Kleiner Muck, kleiner Muck!"
Auch hatten wir ein lustiges Verslein, das wir ihm zu Ehren hie und da sangen, es hieß:
"Kleiner Muck, kleiner Muck,
Wohnst in einem großen Haus,
Gehst nur alle vier Wochen aus,
Bist ein braver, kleiner Zwerg,
Hast ein Köpflein wie ein Berg.
Schau dich einmal um und guck,
Lauf und fang uns, kleiner Muck!"
So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner Schande muss ich es gestehen, ich trieb es am ärgsten, denn ich zupfte ihn oft am Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die großen Pantoffeln, dass er hinfiel. Dies kam mir nun höchst lächerlich vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck auf meines Vaters Haus zugehen sah. Er ging richtig hinein und blieb einige Zeit dort. Ich versteckte mich an der Haustür und sah den Muck wieder herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn ehrerbietig an der Hand hielt und an der Tür unter vielen Bücklingen sich von ihm verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumut, ich blieb daher lange in meinem Versteck. Endlich aber trieb mich der Hunger, den ich ärger fürchtete als Schläge, heraus, und demütig und mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen Vater. "Du hast, wie ich höre, den guten Muck geschimpft?" sprach er in sehr ernstem Ton. "Ich will dir die Geschichte dieses Muck erzählen, und du wirst ihn gewiss nicht mehr auslachen! Vor- und nachher aber bekommst du das Gewöhnliche." - Das "Gewöhnliche" aber waren fünfundzwanzig Hiebe, die er nur allzu richtig aufzuzählen pflegte. Er nahm daher sein langes Pfeifenrohr, schraubte die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete mich ärger als je zuvor. Als die fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und erzählte mir von dem kleinen Muck.
Der Vater des kleinen Muck - der eigentlich Mukrah heißt - war ein armer, aber angesehener Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl leiden, weil er sich seiner Zwerggestalt schämte, und ließ ihn daher auch in Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck war noch in seinem sechzehnten Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann, tadelte ihn immer, dass er, der schon längst die Kinderschuhe zertreten haben sollte, noch so dumm und läppisch sei.
Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb und den kleinen Muck arm und unwissend zurückließ. Die harten Verwandten, denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen konnte, jagten den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die Welt hinauszugehen und sein Glück zu suchen. Der kleine Muck antwortete, er sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den Anzug seines Vaters aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein Vater war ein großer, starker Mann gewesen, daher passten die Kleider nicht. Muck aber wusste bald Rat. Er schnitt ab, was zu lang war, und zog dann die Kleider an. Er schien aber vergessen zu haben, dass er auch in der Weite davon schneiden müsse. Daher sein sonderbarer Aufzug, wie er noch heute zu sehen ist. Der große Turban, der breite Gürtel, die weiten Hosen, das blaue Mäntelein - alles dies sind Erbstücke seines Vaters, die er seitdem getragen hat. Den langen Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte er in den Gürtel, ergriff ein Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.
Fröhlich wanderte er den ganzen Tag, denn er war ja ausgezogen, um sein Glück zu suchen. Wenn er eine Scherbe auf der Erde im Sonnenschein glänzen sah, so steckte er sie gewiss zu sich, im Glauben, dass sie sich in den schönsten Diamanten verwandeln werde. Sah er in der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen See wie ein Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu, denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach! Jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzu bald erinnerte ihn seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen daran, dass er sich noch im Lande der Sterblichen befinde. So war er zwei Tage gereist unter Hunger und Kummer und verzweifelte, sein Glück zu finden. Die Früchte des Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte Erde sein Nachtlager. Am Morgen des dritten Tages erblickte er von einer Anhöhe eine große Stadt. Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen schimmerten auf den Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich herzuwinken. Überrascht stand er still und betrachtete Stadt und Gegend. "Ja, dort wird Klein-Muck sein Glück finden", sprach er zu sich und machte trotz seiner Müdigkeit einen Luftsprung, "dort oder nirgends!" Er raffte alle seine Kräfte zusammen und schritt auf die Stadt zu. Aber obgleich sie ganz nahe schien, konnte er sie doch erst gegen Mittag erreichen, denn seine kleinen Glieder versagten ihm beinahe gänzlich den Dienst, und er musste sich oft in den Schatten einer Palme setzen, um auszuruhen. Endlich war er am Tor der Stadt angelangt. Er legte sein Mäntelein zurecht, band den Turban schöner um, zog den Gürtel noch breiter und steckte den langen Dolch schiefer. Dann wischte er den Staub von den Schuhen, ergriff sein Stöcklein und ging mutig zum Tor hinein.
Er hatte schon einige Straßen durchwandert, aber nirgends öffnete sich eine Tür, nirgends rief man wie er sich vorgestellt hatte: "Kleiner Muck, komm herein und iss und trink und lass deine Füsslein ausruhen!"
Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen, schönen Haus hinauf, da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau schaute heraus und rief mit singender Stimme:
"Herbei, herbei!
Gekocht ist der Brei,
Den Tisch ließ ich decken,
Drum lasst es euch schmecken!
Ihr Nachbarn, herbei!
Gekocht ist der Brei."
Die Tür des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen hineingehen. Er stand einige Augenblicke im Zweifel, ob er der Einladung folgen solle. Endlich aber fasste er sich ein Herz und ging in das Haus. Vor ihm her gingen ein paar junge Kätzlein, und er beschloss, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Küche besser kannten als er.
Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten Frau, die zum Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn mürrisch an und fragte nach seinem Begehr. "Du hast ja jedermann zu deinem Brei eingeladen", antwortete der kleine Muck, "und weil ich gar so hungrig bin, so bin ich auch gekommen!"
Die Alte lachte laut und sprach. "Woher kommst du denn, wunderlicher Gesell? Die ganze Stadt weiß, dass ich für niemand koche als für meine lieben Katzen, und hie und da lade ich ihnen Gesellschaft aus der Nachbarschaft ein, wie du siehst."
Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines Vaters Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren Katzen speisen zu lassen. Die Frau, welcher die treuherzige Erzählung des Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein, und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesättigt und gestärkt war, betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: "Kleiner Muck, bleibe bei mir in meinen Diensten! Du hast geringe Mühe und sollst gut gehalten werden." Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein und wurde also der Bediente der Frau Ahavzi. Er hatte einen leichten, aber sonderbaren Dienst. Frau Ahavzi hatte nämlich zwei Kater und vier Katzen. Diesen musste der kleine Muck alle Morgen den Pelz kämmen und mit köstlichen Salben einreiben. Wenn die Frau ausging, musste er auf die Katzen Acht geben, wenn sie aßen, musste er ihnen die Speisen vorlegen, und nachts musste er sie auf seidene Polster legen und sie mit samtenen Decken einhüllen. Auch waren noch einige kleine Hunde im Haus, die er bedienen musste, doch wurden mit diesen nicht so viele Umstände gemacht wie mit den Katzen, welche Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder hielt. Übrigens führte der kleine Muck ein so einsames Leben wie in seines Vaters Haus, denn außer der Frau sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen. Eine Zeitlang ging es dem kleinen Muck ganz gut, er hatte immer zu essen und wenig zu arbeiten und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm zu sein. Aber nach und nach wurden die Katzen unartig. Wenn die Alte ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher, warfen alles durcheinander und zerbrachen manch schönes Geschirr, das ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die Frau die Treppe heraufkommen hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und wedelten ihr mit den Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen wäre. Die Frau Ahavzi geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so verwüstet sah, und schob alles auf den Muck. Er mochte seine Unschuld beteuern, wie er wollte, sie glaubte ihren Katzen, die so unschuldig aussahen, mehr als ihrem Diener.
Der kleine Muck war sehr traurig, dass er also auch hier sein Glück nicht gefunden hatte, und beschloss, den Dienst der Frau Ahavzi zu verlassen. Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren hatte, wie schlecht man ohne Geld lebt, so beschloss er, den Lohn, den ihm seine Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich auf irgendeine Art zu verschaffen. In dem Hause der Frau Ahavzi befand sich ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres er nie gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren gehört, und er hätte für sein Leben gern gewusst, was sie dort versteckt haben könnte. Als er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein, dass dort die Schätze der Frau versteckt sein könnten, aber immer war die Tür fest verschlossen, und er konnte daher den Schätzen nie beikommen.
Eines Morgens, als Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines der Hündlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich behandelt wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei Liebesdienste in hohem Grade erworben hatte, an seinen weiten Beinkleidern und gebärdete sich dabei, wie wenn Muck ihm folgen solle. Muck, welcher gern mit den Hunden spielte, folgte ihm, und siehe da! Das Hündlein führte ihn in die Schlafkammer der Frau Ahavzi vor eine kleine Tür, die er nie zuvor dort bemerkt hatte. Die Tür war halb offen. Das Hündlein ging hinein, und Muck folgte ihm, und wie freudig war er überrascht, als er sah, dass er sich in dem Gemach befand, das schon so lange das Ziel seiner Wünsche war. Er spähte überall umher, ob er kein Geld finden könnte, fand aber nichts. Nur alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen umher. Eines dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Es war von Kristall, und schöne Figuren waren darauf ausgeschnitten. Er hob es auf und drehte es nach allen Seiten. Aber, o Schrecken! Er hatte nicht bemerkt, dass es einen Deckel hatte, der nur leicht darauf hingesetzt war. Der Deckel fiel herab und zerbrach in tausend Stücke.
Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein Schicksal entschieden, jetzt musste er fliehen, sonst schlug ihn die Alte tot. Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur noch einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den Habseligkeiten der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen könnte. Da fielen ihm ein Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge. Sie waren zwar nicht schön, aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen. Auch zogen ihn jene wegen ihrer Größe an, denn hatte er sie an den Füßen, so mussten ihm hoffentlich alle Leute ansehen, dass er die Kinderschuhe vertreten habe! Er zog also schnell seine Töffelein aus und fuhr in die großen hinein. Ein Spazierstöcklein mit einem schön geschnitzten Löwenkopf schien ihm hier auch allzu müßig in der Ecke zu stehen. Er nahm es also mit und eilte zum Zimmer hinaus. Schnell ging er jetzt in seine Kammer, zog sein Mäntelein an, setzte den väterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Gürtel und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und zur Stadt hinaus. Vor der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer weiter fort, bis er vor Müdigkeit beinahe nicht mehr konnte. So schnell war er in seinem ganzen Leben nicht gegangen, ja, es schien ihm, als könne er gar nicht aufhören zu rennen, denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn fortzureißen. Endlich bemerkte er, dass es mit den Pantoffeln eine eigenen Bewandtnis haben müsse, denn diese schossen immer fort und führten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen, aber es wollte nicht gelingen. Da rief er in der höchsten Not, wie man Pferden zuruft, sich selber zu: "Oh - oh, halt, oh!" - Da hielten die Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde nieder.
Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch durch seine Dienste etwas erworben, das ihm in der Welt, auf seinem Weg ins Glück, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner Freude vor Erschöpfung ein, denn das Körperlein des kleinen Muck, das einen so schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten. Im Traum erschien ihm das Hündlein, welches ihm im Hause der Frau Ahavzi zu den Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: "Lieber Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht. Wisse, dass, wenn du dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, du hinfliegen kannst, wohin du nur willst. Und mit dem Stöcklein kannst du Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es dreimal auf die Erde schlagen, bei Silber aber zweimal." - So träumte der kleine Muck. Aber als er aufwachte, dachte er über den wunderbaren Traum nach und beschloss, alsbald einen Versuch zu machen. Er zog die Pantoffeln an, lüpfte einen Fuß und begann, sich auf dem Absatz umzudrehen. Wer es aber jemals versucht hat, in einem ungeheuer weiten Pantoffel dieses Kunststück dreimal hintereinander zu machen, der wird sich nicht wundern, wenn es dem kleinen Muck nicht gleich glückte, besonders wenn man bedenkt, dass ihn sein schwerer Kopf bald auf diese, bald auf jene Seite hinüberzog.
Der arme Kleine fiel einige Mal tüchtig auf die Nase, doch ließ er sich nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich glückte es. Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte sich in die nächste große Stadt, und - die Pantoffeln ruderten hinauf in die Lüfte, liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich der kleine Muck noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich schon auf einem großen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren und unzählige Menschen geschäftig hin und her liefen. Er ging unter den Leuten hin und her, hielt es aber bald für ratsamer, sich in eine einsamere Straße zu begeben, denn auf dem Markt trat ihm bald da einer auf die Pantoffeln, dass er beinahe umfiel, bald stieß er mit seinem weithinausstehenden Dolch einen oder den andern an, dass er mit Mühe Schlägen entging.
Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte, um sich ein Stück Geld zu verdienen. Er hatte zwar ein Stäblein, das ihm verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz finden, wo Gold oder Silber vergraben wäre? Auch hätte er sich zur Not für Geld sehen lassen können, aber dazu war er doch zu stolz. Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße wieder ein, vielleicht, dachte er, können mir meine Pantoffeln Unterhalt gewähren! Und er beschloss, sich als Schnellläufer zu verdingen. Da er aber hoffen durfte, dass der König dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle, so erfragte er den Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort, dass er einen Dienst suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven. Diesem trug er sein Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter den königlichen Boten zu besorgen. Der Aufseher maß ihn mit den Augen von Kopf bis Fuß und sprach: "Wie, mit deinen Füsslein, die kaum so lang wie eine Spanne sind, willst du königlicher Schnellläufer werden? Hebe dich weg! Ich bin nicht dazu da, mit jedem Narren Kurzweil zu treiben!" Der kleine Muck versicherte ihm aber, dass es ihm vollkommen ernst mit seinem Antrag sei und dass er es mit dem Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen wolle. Dem Aufseher kam die Sache gar nicht lächerlich vor. Er befahl ihm, sich bis zum Abend zu einem Wettlauf bereit zu halten, führte ihn in die Küche und sorgte dafür, dass ihm gehörig Speise und Trank gereicht wurde. Er selbst aber begab sich zum König und erzählte ihm vom kleinen Muck und seinem Anerbieten. Der König war ein lustiger Herr. Daher gefiel es ihm wohl, dass der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen zu einem Spaß dabehalten wollte. Er befahl ihm, auf einer großen Wiese hinter dem Schloss Anstalten zu treffen, dass das Wettlaufen mit Bequemlichkeit von seinem ganzen Hofstaat gesehen werden konnte, und empfahl ihm nochmals, große Sorgfalt für den Zwerg zu haben. Der König erzählte seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein Schauspiel haben würden. Diese erzählten es wieder ihren Dienern, und als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles, was Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese, wo Gerüste aufgeschlagen waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu sehen.
Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz genommen hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte vor den hohen Herrschaften eine überaus zierliche Verbeugung. Ein allgemeines Freudengeschrei ertönte, als man des Kleinen ansichtig wurde. Eine solche Figur hatte man dort noch nie gesehen! Das Körperlein mit dem mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten Beinkleider, der lange Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen Füsslein in den großen Pantoffeln - nein! Es war zu drollig anzusehen, als dass man nicht hätte laut lachen sollen! Der kleine Muck ließ sich aber durch das Gelächter nicht irremachen. Er stellte sich stolz, auf sein Stöcklein gestützt, hin und erwartete seinen Gegner. Der Aufseher der Sklaven hatte nach Mucks Wunsch den besten Läufer ausgesucht. Dieser trat nun hinaus, stellte sich neben den Kleinen, und beide harrten auf das Zeichen. Da winkte die Prinzessin Amarza, wie es ausgemacht war, mit dem Schleier, und wie zwei Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen die beiden Wettläufer über die Wiese dahin.
Von Anfang an hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung. Aber dieser jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein, überholte ihn und stand längst am Ziel, als jener noch, nach Luft schnappend, daherlief. Verwunderung und Staunen fesselten einige Augenblicke lang die Zuschauer. Als aber der König zuerst in die Hände klatschte, da jauchzte die Menge, und alle riefen: "Hoch lebe der kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!"
Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht. Er warf sich vor dem König nieder und sprach: "Großmächtigster König, ich habe hier nur eine kleine Probe meiner Kunst gegeben! Wolle nur gestatten, dass man mir eine Stelle unter deinen Läufern gebe!" Der König aber antwortete ihm: "Nein! Du sollst mein Leibläufer und immer um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert Goldstücke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener sollst du speisen."
So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so lange suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch erfreute er sich der besonderen Gnade des Königs, denn dieser gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Botschaften, die er dann mit der größten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle besorgte.
Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell zu laufen, in der Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen. Sie veranstalteten daher manche Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen, aber alle schlugen fehl wegen des großen Zutrauens, das der König zu seinem Oberleibläufer - denn zu dieser Würde hatte er es in so kurzer Zeit gebracht - hatte.
Muck, dem diese Bestrebungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf Rache - dazu hatte er ein zu gutes Herz --, nein, auf Mittel sann er, sich bei seinen Feinden beliebt und notwendig zu machen. Da fiel ihm sein Stäblein, das er in seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein. Wenn er Schätze fände, dachte er, würden die Herren ihm schon geneigter werden. Er hatte schon oft gehört, dass der Vater des jetzigen Königs viele seiner Schätze vergraben habe, als der Feind sein Land überfallen. Man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne dass er seinem Sohn sein Geheimnis habe mitteilen können. - Von nun an nahm der kleine Muck immer sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem Ort vorüberzugehen, wo das Gold des alten Königs vergraben war. Eines Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des Schlossgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich fühlte er das Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den Boden. Nun wusste er schon, was das zu bedeuten hatte. Er zog daher seinen Dolch heraus, machte Zeichen in die umstehenden Bäume und schlich sich wieder ins Schloss. Dort verschaffte er sich einen Spaten und wartete die Nacht zu seinem Unternehmen ab.
Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu schaffen, als er geglaubt hatte.
Seine Arme waren gar schwach, sein Spaten aber groß und schwer, und er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein paar Fug tief gegraben hatte. Endlich stieß er auf etwas Hartes, das wie Eisen klang. Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen großen eisernen Deckel zutage gefördert. Er stieg selbst in die Grube hinab, um nachzusehen, was wohl der Deckel bedeckt haben könnte, und fand richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt. Aber seine schwachen Kräfte reichten nicht aus, um den Topf zu heben. Daher steckte er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, soviel er zu tragen vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte das übrige wieder sorgfältig und lud es auf den Rücken. Aber wahrlich! Wenn er die Pantoffeln nicht an den Füßen gehabt hätte, er wäre nicht vom Fleck gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder. Doch unbemerkt kam er auf sein Zimmer und verwahrte dort das Gold unter den Polstern seines Sofas.
Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er, das Blatt werde sich jetzt wenden, und er werde sich unter seinen Feinden am Hofe viele Gönner und Anhänger erwerben. Aber schon daran konnte man erkennen, dass der gute Muck keine sehr sorgfältige Erziehung genossen hatte, sonst hätte er sich wohl nicht einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach, dass er damals doch seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll Gold aus dem Staub gemacht hätte!
Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen austeilte, erweckte den Neid der übrigen Hofbedienten. Der Küchenmeister Ahuli sagte: "Er ist ein Falschmünzer." Der Sklavenaufseher Achmet sagte: "Er hat es dem König abgeschwatzt." Archaz, der Schatzmeister aber, sein ärgster Feind, der selbst hie und da einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu: "Er hat's gestohlen." - Um nun ihrer Sache gewiss zu sein, verabredeten sie sich, und der Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und niedergeschlagen vor den Augen des Königs. Er machte seine traurigen Gebärden so auffallend, dass ihn der König fragte, was ihm fehle. "Ach", antwortete er, "ich bin traurig, dass ich die Gnade meines Herrn verloren habe." - "Was faselst du, Freund Korchuz", entgegnete ihm der König. "Seit wann hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten lassen?" Der Obermundschenk antwortete ihm, dass er ja den geheimen Oberleibläufer mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber nichts gebe.
Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich von den Geldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen brachten ihm leicht den Verdacht bei, dass Muck auf irgendeine Weise das Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese Wendung der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung ablegte. Der König gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte des kleinen Muck achtzugeben, um ihn womöglich auf frischer Tat zu ertappen. Als nun in der Nacht, die auf diesen Unglückstag folgte, der kleine Muck, da er durch seine Freigebigkeit seine Kasse erschöpft sah, den Spaten nahm und in den Schlossgarten schlich, um dort von seinem geheimen Schatz neuen Vorrat zu holen, folgten ihm von weitem die Wachen, vorn dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem Schatzmeister, angeführt. Und in dem Augenblick, da er das Gold aus dem Topf in sein Mäntelein stecken wollte, fielen sie über ihn her, banden ihn und führten ihn sogleich vor den König. Dieser, den ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes mürrisch gemacht hatte, empfing seinen armen geheimen Oberleibläufer sehr ungnädig und stellte sogleich ein Verhör mit ihm an. Man hatte den Topf vollends aus der Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem Mäntelein voll Gold vor die Füße des Königs gesetzt. Der Schatzmeister sagte aus, dass er mit seinen Wachen den Muck überrascht habe, wie er diesen Topf mit Gold gerade in die Erde gegraben habe.
Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei, und woher er das Gold, dass er vergraben, bekommen habe.
Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, dass er diesen Topf im Garten entdeckt habe, dass er ihn habe nicht ein-, sondern ausgraben wollen.
Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König aber, aufs höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des Kleinen, rief aus: "Wie, Elender? Du willst deinen König so dumm und schändlich belügen, nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister Archaz! Ich fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes als die nämliche erkennst, die in meinem Schatz fehlt!"
Der Schatzmeister antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiss, so viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit in dem königlichen Schatz, und er könnte einen Eid darauf ablegen, dass dies das Gestohlene sei.
Da befahl der König, den kleinen Muck in Ketten zu legen und in den Turm zu führen. Dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es wieder in den Schatz zu tragen. Vergnügt über den glücklichen Ausgang der Sache, zog dieser ab und zählte zu Hause die blinkenden Goldstücke. Aber das hat dieser schlechte Mann nie angezeigt, dass unten in dem Topf ein Zettel lag, auf dem stand: "Der Feind hat mein Land überschwemmt, daher verberge ich hier einen Teil meiner Schätze. Wer es auch finden mag, den treffe der Fluch des Königs, wenn er es nicht sogleich meinem Sohn ausliefert. - König Sadi."
Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an. Er wusste, dass auf Diebstahl an königlichem Eigentum der Tod stand, und doch mochte er das Geheimnis des Stäbchens dem König nicht verraten, weil er mit Recht fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln beraubt zu werden. Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine Hilfe bringen, denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen war, konnte er, so sehr er sich quälte, sich nicht auf dem Absatz umdrehen. Als ihm aber am andern Tag sein Tod angekündigt wurde, da dachte er doch, es sei besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben, als mit ihm zu sterben, ließ den König um geheimes Gehör bitten und entdeckte ihm das Geheimnis. Der König maß dem Geständnis anfangs keinen Glauben bei, aber der kleine Muck versprach eine Probe, wenn ihm der König zusagte, dass er nicht getötet werden solle. Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen, einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem Stäbchen zu suchen. In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden, denn das Stäbchen schlug dreimal deutlich auf den Boden. Da merkte der König, dass ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm, wie es im Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er sich selbst erhänge. Zum kleinen Muck aber sprach er: "Ich habe dir zwar dein Leben versprochen, aber es scheint mir, als ob du nicht allein dies Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest. Darum bleibst du in ewiger Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine Bewandtnis es mit deinem Schnelllaufen hat!" Der kleine Muck, dem die einzige Nacht im Turm alle Lust zu längerer Gefangenschaft genommen hatte, bekannte, dass seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch lehrte er den König nicht das Geheimnis des dreimaligen Umdrehens auf dem Absatz. Der König schlüpfte selbst in die Pantoffeln, um die Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher. Oft wollte er anhalten, aber er wusste nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen brachte, und der kleine Muck, der sich diese kleine Rache nicht versagen konnte, ließ ihn laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.
Als der König wieder zur Besinnung gekommen war, war er schrecklich aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer Atem hatte laufen lassen. "Ich habe dir mein Wort gegeben, dir Freiheit und Leben zu schenken. Aber innerhalb zwölf Stunden musst du mein Land verlassen haben, sonst lasse ich dich aufknüpfen!" Die Pantoffeln aber und das Stäbchen ließ er in seine Schatzkammer bringen.
So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit verwünschend die ihm vorgespielt hatte, er könne eine bedeutende Rolle bei Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum Glück nicht groß. Daher war er schon nach acht Stunden an der Grenze, obgleich ihm das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war, sehr sauer ankam.
Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die dichteste Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur für sich zu leben, denn er war allen Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf einen Platz, der ihm zu dem Entschluss, den er gefasst hatte, ganz tauglich schien. Ein klarer Bach, von großen, schattigen Feigenbäumen umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein. Hier warf er sich nieder mit dem Entschluss, keine Speise mehr zu sich zu nehmen, sondern hier den Tod zu erwarten. über traurigen Todesbetrachtungen schlief er ein. Als er aber wieder erwachte und der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte er doch, dass der Hungertod eine gefährliche Sache sei, und sah sich um, ob er nirgends etwas zu essen bekommen könnte.
Köstliche reife Feigen hingen an dem Baum, unter welchem er geschlafen hatte. Er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ es sich vortrefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um seinen Durst zu löschen. Aber wie groß war sein Schrecken, als ihm das Wasser seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken, langen Nase geschmückt zeigte! Bestürzt griff er mit den Händen nach den Ohren, und wirklich, sie waren über eine halbe Elle lang.
"Ich verdiene Eselsohren!" rief er aus, "denn ich habe mein Glück wie ein Esel mit Füßen getreten." - Er wanderte unter den Bäumen umher, und als er wieder Hunger fühlte, musste er noch einmal zu den Feigen seine Zuflucht nehmen, denn sonst fand er nichts Essbares an den Bäumen. Als ihm über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren nicht unter seinem großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht gar zu lächerlich aussehe, fühlte er, dass seine Ohren verschwunden waren. Er lief gleich an den Bach zurück, um sich davon zu überzeugen, und wirklich, es war so! Seine Ohren hatten ihre vorherige Gestalt, seine lange, unförmige Nase war nicht mehr da. Jetzt merkte er aber, wie dies gekommen war. Von dem ersten Feigenbaum hatte er die lange Nase und die Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt. Freudig erkannte er, dass sein gütiges Geschick ihm noch einmal die Mittel in die Hand gebe, glücklich zu sein. Er pflückte daher von jedem Baum, soviel er tragen konnte, und ging in das Land zurück, das er vor kurzem verlassen hatte. Dort machte er sich in dem ersten Städtchen durch andere Kleider ganz unkenntlich und ging dann weiter auf die Stadt zu, die jener König bewohnte, und kam auch bald dort an. Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich selten waren. Der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des Palastes, denn ihm war von früherer Zeit wohl bekannt, dass hier solche Seltenheiten vom Küchenmeister für die königliche Tafel eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah. Er musterte die Waren der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten. Endlich fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen. "Ah, ein seltener Bissen", sagte er, "der Ihrer Majestät gewiss behagen wird! Was willst du für den ganzen Korb?" Der kleine Muck bestimmte einen mäßigen Preis, und sie waren bald handelseinig. Der Küchenmeister übergab den Korb einem Sklaven und ging weiter. Der kleine Muck aber machte sich einstweilen aus dem Staube, weil er fürchtete, wenn sich das Unglück an den Köpfen des Hofes zeige, würde man ihn als den Verkäufer aufsuchen und bestrafen.
Der König war bei Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem Küchenmeister ein Mal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten Küche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste für ihn aussuche. Der Küchenmeister aber, welcher wohl wusste, welchen Leckerbissen er noch im Hintergrund hatte, schmunzelte gar freundlich und ließ nur einzelne Worte fallen wie: "Es ist noch nicht aller Tage Abend", oder "Ende gut, alles gut", so dass die Prinzessinnen sehr neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde. Als er aber die schönen, einladenden Feigen auftragen ließ, ertönte ein allgemeines Ah der Anwesenden. "Wie reif, wie appetitlich!" rief der König. "Küchenmeister, du bist ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!" So sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr sparsam zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel aus. Jeder Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und die Wesire und Agas eine, die übrigen stellte er vor sich hin und begann mit Behagen, sie zu verschlingen.
"Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater!" rief auf einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den König erstaunt an, ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über sein Kinn herunter. Auch sich selbst betrachteten sie untereinander mit Staunen und Schrecken, alle waren mehr oder minder mit dem sonderbaren Kopfputz geschmückt.
Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach allen Ärzten der Stadt, sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und Mixturen, aber die Ohren und die Nasen blieben! Man operierte einen der Prinzen, aber die Ohren wuchsen nach.
Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich zurückgezogen hatte, gehört und erkannte, dass es jetzt Zeit sei, zu handeln. Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen erlösten Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten erkennen ließ. Ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Täuschung., Mit einem Säckchen voll Feigen wanderte er zum Palast des Königs und bot als fremder Arzt seine Hilfe an. Man war anfangs sehr ungläubig, als aber der kleine Muck einem der Prinzen eine Feige zu essen gab und Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte alles von dem fremden Arzt geheilt werden. Aber der König nahm ihn schweigend bei der Hand und führte ihn in sein Gemach. Dort schloss er eine Tür auf, die in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm zu folgen. "Hier sind meine Schätze", sprach der König, "wähle dir, was es auch sei, es soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem schmachvollen Übel befreist!" - Das war süße Musik in des kleinen Mucks Ohren. Er hatte gleich beim Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, daneben lag auch sein Stäbchen. Er ging nun in dem Saal umher, wie wenn er die Schätze des Königs bewundern wollte. Kaum war er aber an seine Pantoffeln gekommen, so schlüpfte er eilends hinein, ergriff sein Stäbchen, riss seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck. "Treuloser König", sprach er, "der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als wohlverdiente Strafe die Missgestalt, die du trägst! Die Ohren lasse ich dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen Muck!" Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz herum, wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe rufen konnte, war der kleine Muck entflohen.  

Seitdem lebt der Kleine hier in großem Wohlstand, aber einsam, denn er verachtet die Menschen. Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher - wenn auch sein Äußeres etwas Auffallendes haben mag - deine Bewunderung mehr als deinen Spott verdient.